2.3 Kirche und Gemeinde

 

Die christlichen Kirchen sind statistisch betrachtet längst keine „Volkskirchen“ mehr. Die Zahl derjenigen Getauften, die sich ihrer Kirche so sehr entfremdet haben, dass sie ihr formal den Rücken kehren, nimmt stetig zu. Allein 2021 ist die Zahl der Austritte aus der Evangelischen Kirche im Rheinland gegenüber dem Vorjahr um 49% auf 33.191 gesprungen. Zugleich sind nach wie vor fast 50 % der Deutschen Mitglied einer christlichen Kirche, davon ist wiederum knapp die Hälfte evangelisch. Auch wenn der Rückgang der Kirchenmitglieder nicht aufzuhalten ist, haben die Kirchen weiterhin die Chance, als „Kirche im Volk“ und als „Kirche für das Volk” anerkannte und relevante Gruppierungen in der Gesellschaft zu bleiben.

Jedes Mitglied der rheinischen Kirche gehört rechtlich einer bestimmten Kirchengemeinde an (Gemeindezugehörigkeit). Dies ist allerdings ein juristisches Konstrukt. Nur ein kleiner Teil der Kirchenmitglieder beteiligt sich aktiv am Leben einer bestimmten (Orts-)Gemeinde. Der überwältigende Rest nimmt den Dienst der eigenen Kirche nur sporadisch in Anspruch. Damit gleicht die Kirche anderen Vereinen, von denen es in Deutschland immerhin über 600.000 gibt. Das Gros der Mitglieder finanziert dabei oft mit ihren Beiträgen die Aktivitäten, die von einer kleinen Gruppe getragen werden. Wenn Kirchenmitglieder Jahr für Jahr bereitwillig ihre (jeden Vereinsbeitrag weit übersteigende!) Kirchensteuer zahlen, so ist dies als eine legitime und wertvolle Weise der Teilnahme und der Unterstützung wertzuschätzen.

Menschen sind heute mobiler denn je und müssen es oft sein. Häufig sind sie bereits in jungen Jahren mehrfach umgezogen. Entsprechend schwach gebunden sind sie an ihre Wohnortgemeinde, und die Kirche im eigenen Quartier weckt nicht immer Heimatgefühle. Stattdessen versammelt sich aus Anlass einer Taufe, einer Konfirmation, einer Trauung oder einer Beerdigung eine sehr individuelle Ad-hoc-Gemeinde. Die teils von weither angereisten Feiernden sind durch persönliche Kontakte und eine manchmal lange Geschichte miteinander verbunden – mit der gastgebenden Ortsgemeinde haben sie dagegen häufig wenige bis keine Berührungspunkte. So verständlich der Wunsch auch ist, über eine Kasualie ein stärkeres Zugehörigkeitsgefühl oder gar eine häufigere Teilnahme am gemeindlichen Leben zu erreichen: er birgt die Gefahr, das Gegenteil zu bewirken und eine vielleicht schon vorhandene Entfremdung weiter zu vertiefen. Ja, die (auch nur gefühlte) Verpflichtung, eine Kasualie vor einer großen Gottesdienstgemeinde zu empfangen, kann Menschen davon abhalten, diese überhaupt in Betracht zu ziehen. Daher soll die Taufe nicht länger „in der Regel im [sonntäglichen] Gottesdienst der Kirchengemeinde“ (Art. 78 II KO a.F.) vollzogen werden, vielmehr sollen separate Taufgottesdienste als ebenbürtige Alternative gelten. Dabei geht es nicht darum, individualistische Tendenzen stillschweigend zu akzeptieren oder weiter zu befördern. Kirchenmitglieder sollten vielmehr erfahren, dass sie mit ihrer individuellen Existenz im Raum der Kirche zu Hause und willkommen sind. Die Eingliederung in eine konkrete Gemeinde ist nicht das erste Ziel einer Kasualhandlung – werden die Begegnungen und die Feier als positiv erlebt, kann sie aber sehr wohl die Folge sein.

Jede Kasualie ist eine Feier der Kirche und verbindet die hier und jetzt Feiernden mit der weltweiten Christenheit. Der Kirchenraum verweist auf die Gemeinschaft derer, die dort regelmäßig Gottesdienst feiern. Dennoch sollen Trauungen und Trauerfeiern künftig nicht nur „an einer öffentlich zugänglichen [Gottesdienst-]Stätte” (§ 33 IV LOG; § 36a LOG) gefeiert werden können. Auch sollen Taufen und Trauungen nicht länger nur in einem begründungspflichtigen Ausnahme- oder gar Notfall (§ 15 II LOG; § 33 IV LOG) an einem anderen Ort stattfinden können. Denn die Raum und Zeit übergreifende Gemeinschaft der Kirche wird auch außerhalb eines Kirchenraums durch die anderen teilnehmenden Getauften sowie die ordinierte Liturgin oder den ordinierten Liturgen repräsentiert. Die biblischen Lesungen und Auslegungen ebenso wie die Gebete und Lieder verknüpfen die individuellen Lebensgeschichten zudem ausdrücklich mit der universalen Liebesgeschichte Gottes mit seinen Geschöpfen.

Um eine Kasualie in Anspruch nehmen zu können, muss zumindest eine oder einer der Beteiligten der Kirche angehören. Mit abnehmender Kirchenmitgliedschaft wird allerdings die Zahl von Ausgetretenen und Ungetauften wachsen, die um eine Kasualfeier bitten oder sich (z. B. als Taufpatin oder Taufpate) in sie einbringen möchten. Ob wir als rheinische Kirche dem Beispiel der Nordkirche folgen wollen, die derzeit probeweise Kasualfeiern (außer der Trauung) auch für Nicht-Kirchenmitglieder öffnet, will gut überlegt sein. In jedem Fall gilt es, behutsame und kreative Wege des Umgangs mit solchen Anfragen zu finden, die treue (und zahlende) Kirchenmitglieder nicht brüskieren. Als Beispiel seien die Lebenswende-Feiern für nichtchristliche Jugendliche in Ostdeutschland erwähnt (→ Bistum Erfurt).

 

[Inhalt]
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Beiträge zu “2.3 Kirche und Gemeinde

  1. Im Text heißt es: „Die Eingliederung in eine konkrete Gemeinde ist nicht das erste Ziel einer Kasualhandlung – werden die Begegnungen und die Feier als positiv erlebt, kann sie aber sehr wohl die Folge sein.“
    Faktisch ist es doch aber so, dass die Taufe die Mitgliedschaft nicht nur in der weltweiten Christenheit, sondern auch in der Gemeinde des Wohnorts begründet. Wird denn auch darüber nachgedacht, das mal voneinander zu trennen? Eingliederung in den weltweiten Leib Christi, ja! Aber konkrete Kirchen- oder Gemeindemitgliedschaft als extra zu betrachtende Sache? Wäre das nicht folgerichtig? Ich wäre dafür, das getrennt zu behandeln.
    Bei allen bisher stattgefundenen Taufinitiativen muss doch unterstellt werden, dass das heimliche Ziel eben doch die Mitgliedergewinnung ist, nach dem Motto: Wir brauchen mehr Taufen, um die Gemeindemitgliederzahl zu erhöhen.

    Ich bin für ein höheres Maß an Kreativität, was die Orte für die Kasualien betrifft. Da gibt es viele Gestaltungsmöglichkeiten, und da brechen wir uns als Kirche auch keinen Zacken aus der Krone, die Wünsche der Menschen zu erfüllen. Es wäre gute rheinische Tradition, diesbezüglich vor Ort individuelle Lösungen zu finden, je nach Gemeinde- oder Regionalkonzept. Anbieten, was geht!
    Ich bin aber sehr dafür, grundsätzlich den öffentlichen Charakter von Kasualien beizubehalten und keine reinen Privatveranstaltungen daraus zu machen. Beispiel Beerdigung: Wir sehr hat das zugenommen: „Findet im engsten Familienkreis statt“! Doch wie oft erlebe ich, dass verkannt wird, welche Bezüge ein Verstorbener auch über die Familie hinaus in seinem Leben hatte, wovon diese engste Familie nichts weiß! Es gibt auch die trauernde Gemeinde, die ein Mitglied verloren hat! Genauso hat eine Gemeinde ein hohes Interesse daran, freudige Ereignisse mit den betreffenden Mitgliedern zu teilen. Von daher: Andere Orte und Zeiten, ja! Aber weiterhin mit Herstellung der Öffentlichkeit!

    Sicher wäre es gut, die Kasualhandlungen auch für Nicht-Mitglieder anzubieten. Aber es ist ja nun mal so, dass jede „Dienstleistung“ Geld kostet. Wenn also jemand keinen Mitgliedschaftsbeitrag leistet, fände ich es nur legitim, für eine Kasualhandlung Geld zu verlangen. Das wird ja auf dem „freien Markt“ auch so gehandhabt, und die Menschen sind bereit, für einen freien Redner hohe Honorare zu bezahlen, wenn es gut gemacht wird.

  2. Erster Absatz: Die Taufe ist als Sakrament nicht an die Aufgaben der evangelischen Kirche, sondern an den Auftrag Jesu gebunden: „Gehet hinaus in alle Welt…“.
    Daraus lässt sich jedoch weder ein missionarischer, noch ein volkskirchlicher Anspruch erheben. Für diese Kasualie sind daher Mitgliedszahlen unerheblich. Der Zusammenhang von Taufe und Kirchenmitgliedschaft wäre ebenso neu zu definieren wie das Sakramentsverständnis.

    „Auch wenn der Rückgang der Kirchenmitglieder nicht aufzuhalten ist…“ – dies ist eine negative und von Fakten ungestützte Annahme. Besser wäre m.E. von Veränderungsprozessen zu schreiben, die großes Potential haben, dass Kirche im Volk und Kirche für das Volk ihren Beitrag für die Gesellschaft auch in Zukunft leistet.

    Die Bedeutung des Raumes – insbesondere des Kirchraumes – ist in vielen (s. phänomenologischen) Studien bestätigt worden. Seine Bedeutung z.B. als Schutzraum, Ort des Gebets, Feierstätte, Heiligtum und Gemeinschaftshaus – sollte in seiner Vielfalt (auch im Kontext mit den Gottesdienststätten anderer Religionen) als Ort der Kasualie gestärkt werden. Zusätzlich sind alternative Räume eine Bereicherung.

  3. Für mich ist die Taufe von der Kirchenmitgliedschaft nicht zu trennen.
    Denn der Leib Christi findet in der Gemeinde, zu der ich mich halte, Konkretion.
    Und Christsein ist für mich ohne Gemeinschaft nicht sinnvoll denkbar.
    Dann würde ich eher darüber diskutieren, warum wir eigentlich Kinder von Familien taufen, die wir vorher nie gesehen haben und nachher nie wieder sehen werden und bei denen im Taufgespräch ziemlich eindeutig ist, dass sie keine Ahnung und keinen Bezug haben.

    Die Bindung an Kirche und Gemeindegottesdienst finde ich nicht sachgemäß,
    in der Bibel wird schließlich an den unterschiedlichsten Orten getauft,
    daher begrüße ich die Freistellung alternativer Orte und die Gleichstellung separater Taufgottesdienste.

    Es wundert mich, dass extra erwähnt wird, dass Nichtkirchenmitglieder mitgestalten sollen dürfen –
    tun sie doch an vielen Orten schon längst – nur Paten werden sie halt nicht.

    Nichtkirchenmitgliedern gegen ggf. Gebühren Kasualien anzubieten finde ich nicht notwendig und auch nicht zielführend.
    Wir haben den Segen ja nicht für uns gepachtet. Wer unsere Organisationsform (samt Kirchensteuer) nicht teilen möchte, kann sich gerne andere Anbieter suchen.

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