„Die Verantwortung liegt immer bei den Erwachsenen“

  • Ekkehard Rüger

Sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern geschieht meist im Nahbereich. Sexualpädagogin Anke Erath über Kommunikation zwischen Eltern und Kita, den richtigen Umgang mit Verdachtsmomenten und die Grenzen körperlicher Nähe.

Frau Erath, aktueller Fall: Drei Eltern einer Kita erstatten Anzeige gegen zwei Erzieherinnen wegen Kindesmisshandlung, Körperverletzung und sexuellen Kindesmissbrauchs. Ehe es so weit kommt: Was wären Warnsignale, die Eltern hellhörig machen sollten?
Anke Erath:
Ich würde nicht erst bei Warnsignalen beginnen. Nach meiner Erfahrung ist eine funktionierende Kommunikation zwischen Eltern und Angestellten gerade im Bereich sexualisierter Gewalt sehr relevant. Je geübter Eltern und Erzieherinnen sowie Erzieher sind, über die Themen kindliche Sexualität und sexuelle Gewalt miteinander zu sprechen, umso leichter fällt das auch, wenn es zu Situationen kommt, die wem auch immer auffallen. Bei den Warnsignalen ist die Grundschwierigkeit, dass die Hauptgefahr für Kinder der Nahbereich ist. Die meisten Täterinnen und Täter sind Familienmitglieder und nahe Bezugspersonen. Dazu können auch Mitarbeitende einer Kita zählen. Zu den Warnsignalen kann es gehören, wenn Kinder ein stark verändertes Verhalten zeigen. Das können Distanzlosigkeit oder sozialer Rückzug sein, aber auch plötzliche Schlafstörungen oder eine ungewöhnlich sexualisierte Sprache. Alle Signale müssen nicht mit sexualisierter Gewalt in Verbindung stehen, aber derartige Symptome bedürfen der Aufmerksamkeit.

Aber schnelle Rückschlüsse verbieten sich angesichts der Spannbreite des Verhaltens, das betroffene Kinder an den Tag legen können?
Erath: Mit Verdachtsmomenten muss man sehr vorsichtig sein. Täterinnen und Täter sind besonders kompetent darin, Kindern zu suggerieren, dass sie selbst mit den Übergriffen einverstanden sind. Denn sie erhalten meist eine Zuwendung, die sie besonders brauchen und manchmal auch genießen. Es ist ein Trugschluss zu glauben, Kindern sei immer bewusst, dass sie gerade Betroffene sexualisierter Gewalt werden. Sie werden so manipuliert, dass sie vielleicht erst in der Pubertät oder später merken, dass da etwas nicht in Ordnung war. Gerade Kinder, die aufgrund ihrer emotionalen und psychischen Abhängigkeit nicht in der Lage waren, sich hinreichend zu wehren, entwickeln dann ein schlechtes Gewissen und haben das Gefühl, selbst schuldig zu sein. Aber egal in welchem Alter und mit welcher Reaktion: Die Schuld liegt immer bei den Täterinnen und Tätern. Das, was die Tat auslöst, beurteilen immer die Betroffenen.

Manipulation spielt also eine große Rolle?
Erath: Täter und Täterinnen in Einrichtungen zeichnen sich häufig dadurch aus, dass sie entweder selbst in einer Leitungsfunktion sind oder einen guten Draht zu ihr haben und sich besonders im Team engagieren. Sie arbeiten sehr intensiv an ihrem Ruf, sodass sich Menschen noch schwerer vorstellen können, dass an einem Verdacht etwas dran sein könnte. Das ist Teil der Strategie.

Was können Hilfen für Eltern sein, sensibel zu bleiben, ohne das nötige Vertrauen in die Kita zu verlieren?
Erath: Das ist eine typische Frage bei Elternabenden. Ich rate, auf zwei Ebenen tätig zu werden. Auf der Ebene der Einrichtung können Eltern gezielt nachfragen: Gibt es ein sexualpädagogisches Konzept? Liegt ein Schutzkonzept vor? Wie präsent ist das Thema im Kontakt mit den Kindern, aber auch im Kollegium? Auf der Ebene der Familie geht es nicht um Warnung der Kinder, sondern um Stärkung. Wenn ich Kinder vor sexualisierter Gewalt schützen will, muss ich sie fördern. Sie brauchen Wörter für Geschlechtsteile. Sie müssen zu dem Thema verlässliche Ansprechpersonen haben. Und je geübter Kinder sind, ihren Körper und ihre eigenen Grenzen wahrzunehmen, umso mehr Ressourcen haben sie, sich zu wehren. Aber die Verantwortung, für einen gewaltfreien Raum zu sorgen, liegt immer bei den Erwachsenen. Konkretes Beispiel: Ein Kind wird gekitzelt, lacht und ruft gleichzeitig „Nein“. Da heißt es, aufzuhören.

Auch körperliche Nähe ist für Kinder ein Weg, ihren Körper wahrzunehmen. Aber bei Erwachsenen ist inzwischen eine große Verunsicherung zu spüren, was sie noch dürfen.
Erath: Ich unterscheide dabei zwischen pädagogischem Fachpersonal und Eltern. Beim Fachpersonal gilt die einfache Richtlinie: Die Kinder entscheiden über den Körperkontakt. Bei den Eltern gilt das nicht ganz so streng, aber auch sie sollten überprüfen: Brauche ich jetzt den Körperkontakt oder braucht ihn mein Kind? Und gebe ich meinem Kind die Gelegenheit, den Körperkontakt jederzeit wieder zu beenden? Dabei gilt die Faustregel: Wenn aufseiten der erwachsenen Person eine erotisch-lustvolle Situation entsteht, muss diese sofort beendet werden. Derartige Situationen dürfen nicht willentlich herbeigeführt werden.

Welches Vorgehen empfehlen Sie Eltern im Verdachtsfall?
Erath: Erst einmal rate ich dazu, das eigene Gefühl immer ernst zu nehmen und sich unabhängige Hilfe zu suchen. Wir haben in Deutschland eine große Spanne an Fachberatungsstellen und ich empfehle die Seiten der unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Besteht eine gute Verbindung zu einem geschulten Kita-Personal, könnten auch die Einrichtungs- oder die Gruppenleitung angesprochen werden, wenn es nicht gerade um genau diese Person geht.

Der Verdacht kann ja durchaus auch falsch sein.
Erath: Darum muss erst einmal auf der Faktenebene geklärt werden: Was wissen wir, und was nicht? Eine Anzeige als Erstreaktion ist nur dann ratsam, wenn der Sachverhalt wirklich ganz klar ist. Meist weiß man am Anfang aber gar nicht so viel. Im Mittelpunkt sollte immer das Wohlergehen des Kindes stehen.

Zur Person: Anke Erath

Anke Erath (54) ist Dozentin des Instituts für Sexualpädagogik in Koblenz und Mitglied des Vorstands. Die Kölner Diplom- und Sexualpädagogin mit systemisch-analytischer Beratungsausbildung arbeitet zudem freiberuflich in der sexualpädagogischen Aus- und Weiterbildung.

Hinweis: Das Interview ist Teil der 20. Ausgabe des Evangelischen Elternmagazins Zehn14 (Frühjahr 2023). Alle Informationen zum Magazin und zur Bestellmöglichkeit finden Sie hier.