Wir sind befreit worden zur Nächstenliebe

Diese Corona-Wochen entfalten, so scheint es, ihre eigene Zeitrechnung: Tag X der Kontaktminimierung, Tag Y der Lockerung … Aber auch in diesen ver-rückten Zeiten stehen wichtige Erinnerungstage auf dem Kalender. In 14 Tagen jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Gewaltherrschaft zum 75. Mal.

„Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ Dieser Satz stammt aus der bemerkenswerten Gedenkrede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Er hielt sie bei der Feierstunde zum 40. Jahrestag im Bundestag. Ein viel diskutierter Satz anno 1985. Damals waren die Bilder der Ermordeten und Gefallenen, der Verwundeten und Traumatisierten, der Vertriebenen und der Leidenden noch lebendig in den Erinnerungen der Zeitzeugen. Sie waren noch nicht so verblasst wie heute. Umso wichtiger ist es mir, dass dieser Gedenktag in diesem Jahr nicht in den berechtigten Sorgen und Nöten der Corona-Pandemie untergeht.

Ich bin kein Zeitzeuge. Ich bin Nachgeborener. Aber ich lasse mich an die Verantwortung aus der Geschichte erinnern: Wir sind befreit worden von Verachtung, Ausgrenzung und Nationalismus. Und wir sind befreit worden zu Empathie, Solidarität, Mitmenschlichkeit – als Christ nenne ich es Nächstenliebe – und Weltverantwortung. Diese Werte konkret zu leben, ist alles andere als einfach. Aber gerade diese herausfordernden Corona-Zeiten machen deutlich, wie gut es ist, wenn wir dem eine lebendige Gestalt geben, wozu wir befreit worden sind: um Gottes und der Menschen willen.

  • 25.4.2020