Hunger. Hunger ist kein Zufall, kein Schicksal, keine eigene Schuld.
Hunger ist eine Waffe, ist Unrecht, ist himmelschreiende Sünde.
Ich selbst musste nie hungern. Ich bin groß geworden mit vollen Regalen im Supermarkt, der Frage: „Willst Du ein Mars, Duplo oder Hanuta?“ Aber das ist nicht mein Verdienst. Geboren zur richtigen Zeit am rechten Ort.
Meine Mutter hat Hunger erlebt. Als Flüchtlingskind, Arbeiterfamilie. Als sie ohne irgendetwas dastanden. Im Lager. Und das hat sie geprägt. Zeitlebens. Als sie 18 wurde, wünschte sie sich einen Kringel Fleischwurst, der um ihre Hüften geht. Wohl auch deshalb hat sie später immer mehr gekocht, als wir essen konnten. Damit wurde ich groß.
Hunger ist kein Zufall, kein Schicksal, keine eigene Schuld.
Hunger ist eine Waffe, ist Unrecht, ist himmelschreiende Sünde.
In der letzten Woche wurde in der Ukraine des Holodomor gedacht. Der gezielten Tötung von mehreren Millionen Menschen in den 1930er Jahren durch Zwangskollektivierung, Enteignung, Unterdrückung. Die damalige Sowjetunion verkaufte den Weizen auf dem Weltmarkt und die Bauernfamilien verhungerten wortwörtlich auf der Straße. Eine Erfahrung, die viele zu uns geflohene Ukrainerinnen bis heute nicht vergessen haben. Hunger ist Teil der Geschichte ihrer Familien, ihres Landes.
Weltweit leiden heute 800 Millionen Menschen an Hunger. Jeder zehnte Mensch auf der Erde.
Und das, obwohl wir Nahrungsmittel haben, um das Doppelte bis Dreifache der Weltbevölkerung zu ernähren. Es ist genug für alle da, wenn wir gerecht mit einander teilen. Mehr als jedes fünfte Kind unter fünf Jahren ist unterentwickelt, weil es nicht genug zu essen, zu trinken, gesunde Nahrung hat.
Hunger hat viele Ursachen: Kriege, Seuchen, Korruption, Missernten, der weltweite Handel mit Nahrungsmitteln und Ackerböden, den Klimawandel, der schwächere Länder im globalen Süden besonders trifft. Von dem Ziel der Vereinten Nationen, den Hunger in der Welt bis 2030 zu besiegen, entfernen wir uns gegenwärtig immer weiter.
Hunger ist kein Zufall, kein Schicksal, keine eigene Schuld.
Hunger ist eine Waffe, ist Unrecht, ist himmelschreiende Sünde.
In dem Evangelium von Jesus Christus spielt Hunger eine zentrale Rolle. Die Bergpredigt beginnt damit, dass Jesus die seligpreist, die sich mit Hunger, Armut, Ungerechtigkeit nicht abfinden. Matthäus 5: „Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich. Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden. […] Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden.“ Der Evangelist Lukas spitzt das in seiner parallelen Erzählung von der Feldrede Jesu noch weiter zu: „Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer. Selig seid ihr, die ihr jetzt hungert; denn ihr sollt satt werden.“
Beides gehört zusammen: der Hunger nach Brot und der Hunger nach Gerechtigkeit. Weil Armut Unrecht ist.
Jesus spricht von sich selbst als Brot des Lebens. Er zeigt seinen Jüngerinnen und Jüngern, wie das mit dem Teilen geht: „Gebt ihr ihnen zu essen.“ Am Ende macht er das Teilen von Brot und Wein zum Zeichen seiner Gegenwart unter uns: „Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird.“ An Umgang mit den Armen unserer Zeit entscheidet sich, wie wir mit Jesus Christus umgehen: „Was ihr diesem meiner geringsten Geschwister getan habt oder nicht, das habt ihr mir getan oder nicht.“
Es ist daher seltsam, wenn manche meinen, Religion sei Privatsache. In Jesus Christus nimmt der Schöpfer der Welt Armut hochpersönlich. Mit Jesus ist kein Staat zu machen und keine Wirtschaft zu entwickeln. Aber mit dem Glauben an ihn ist die Welt zu verändern.
Und noch etwas zeichnet Jesu Wirken aus. Er spricht nicht nur von Hunger, Unrecht und Brotteilen.
Sondern er bewirkt selbst einen fundamentalen Wandel: den Anbruch von Gottes Reich mitten unter uns.
Ein Bild, das Jesus dabei immer wieder wählt, ist das des Säens. Gottes Reich kommt, wie wenn ein Sämann seinen Samen sät. Auch wenn vieles daneben geht: Gottes Reich kommt gewiss. Es kommt mit urwüchsiger Kraft wie eine unaufhaltsam wachsende Saat. Auch wenn es für uns unscheinbar klein sein mag wie ein Senfkorn. Gottes Reich kommt ohne Gewalt, ohne dass wir wüssten, wie. Allein, weil Gott es wirkt. Gott regiert. Das verändert die Welt, unser Leben, alle, die daran glauben.
Wandel säen – das ist, was Jesus tut: Er sät den Wandel der Welt, indem er Gottes Reich verkündet, es lebt. Und ist dabei selbst Same und Sämann in einem.
Wandel säen: So heißt die diesjährige 65. Aktion von Brot für die Welt. Sie startet wie immer bewusst im Advent. Weil beides unlöslich zusammengehört: Gottes Kommen und die Liebe zu den Ärmsten.
Wir warten auf den Friedefürst, den Brotmenschen, der uns teilen lehrt.
Alles hat seine Zeit – und Advent ist die Zeit zum Teilen, zum Brotbrechen, für Brot für die Welt.
In diesem Jahr steht die Demokratische Republik Kongo im Fokus. Trotz oder gerade wegen seiner Bodenschätze ist dieser Staat eines der ärmsten Länder weltweit. Die Menschen dort haben unter jahrzehntelanger Ausbeutung, Kriegen, Korruption und Hunger gelitten. Auch nach den ersten freien Wahlen 2006 ist das Land weiter autoritär regiert. Hunger nach Brot und nach Gerechtigkeit gibt es bei vielen.
Wandel säen. Mit der Aktion werden konkrete landwirtschaftliche Projekte gefördert, Bildungsarbeit gestärkt, politische Arbeit geleistet. Brot für die Welt fördert bewusst Kleinbauernfamilien im Kongo. Sie können sich so selbst versorgen mit umweltfreundlichen Anbaumethoden. Sie werden in die Lage versetzt, ihr eigenes Saatgut zu vermehren und biologischen Dünger selbst herstellen zu können. Brot für die Welt setzt sich in dem Projekt zugleich für faire Handelsabkommen mit Ländern des Globalen Südens ein.
Hunger ist kein Zufall, kein Schicksal, keine eigene Schuld.
Hunger ist eine Waffe, ist Unrecht, ist himmelschreiende Sünde.
Nein, auch diese Aktion wird nicht einfach alles Leid wenden. Aber sie kann die Schwestern und Brüder vor Ort stärken, sich selbst zu helfen und sich für Menschenrechte, Demokratie, Bildung zu engagieren.
Wandel säen. Das heißt: Ich vertraue darauf, dass Gott mit dem Kleinen, was ich tue, etwas Großes anfangen kann.
Wandel säen. Das heißt: sich mit der Welt, so wie sie ist, nicht abzufinden. „Da kann man nichts machen!“ ist ein zutiefst gottloser Satz.
Wandel säen. Das heißt: Auf Gottes Kommen in unsere Welt hoffen. Gottes Reich ist gegenwärtig, wo immer wir im Geist und in der Nachfolge Jesu Christi handeln.
Einmal wird Gott allen Hunger stillen – den Hunger nach Brot, nach Gerechtigkeit, nach Frieden.
Einmal wird Gott alle Tränen trocknen. Dann wird kein Leid mehr sein und kein Geschrei.
Einmal werden die Wüsten blühen, werden wir Menschen in Frieden miteinander und mit unseren Mitgeschöpfen leben.
Einmal wird Gottes Reich überall offenbar sein.
Bis dahin lasst uns im Horizont dieses Reiches Gottes leben, das mitten unter uns gegenwärtig ist.
Lasst uns miteinander teilen, anderen helfen, wo immer wir es können.
Lasst uns Liebe leben, so wie Jesus Christus es uns als Herr und Bruder vorgelebt hat.
Und lasst uns dann getrost darauf vertrauen, dass Gott es zu einem guten Ende führt.
Es ist Advent – Zeit, miteinander zu teilen.
Theologische Impulse (136) von Präses Dr. Thorsten Latzel
Weitere Texte: www.glauben-denken.de
Als Bücher: www.bod.de
Foto: Brot für die Welt