2.1 Individuum und Gemeinschaft

Unterschiedliche Haushalte als Strichzeichnungen

 

Selbst vielen Kirchenmitgliedern sind gottesdienstliche Formen und Liturgien heute nicht mehr vertraut, schon gar nicht von Kindesbeinen an. Biblische Texte, Lieder und Rituale sind ihnen oft unbekannt, umso mehr empfinden sie sie manchmal als unpersönlich. Die Tradition mit ihren Ritualen, die frühere Generationen mitunter als Korsett, vor allem aber als Entlastung erlebt haben, ist brüchig geworden. Stattdessen wächst der Wunsch nach Individualität. Taufeltern, Konfirmand:innen, Brautpaare und Hinterbliebene legen Wert auf eine persönliche Gestaltung der liturgischen Feier. Diese wird häufig als private Feier der Familie mit ihrem Freundeskreis betrachtet, weniger als öffentliche Feier der Gemeinde. Die im Mittelpunkt stehenden Personen sollen in ihrer Einzigartigkeit zur Geltung kommen: Ihre Lebensgeschichten sollen anklingen, Lieder und Symbole aus dem persönlichen Umfeld eingebracht, individuelle Rituale vollzogen werden. Die Möglichkeiten der Formen und der Gestaltung sind vielfältig – und sie werden gerne genutzt. Die eigene Feier soll sich möglichst abheben von der Feier der Anderen. Um das Ereignis in lebendiger Erinnerung zu behalten, wird sie professionell in Bild und Ton festgehalten. Die Personen, die die Feier mitgestalten (Liturg:innen, Musiker:innen etc.), werden ebenso wie die Location nach eigenen sympathischen, ästhetischen und/oder pragmatischen Kriterien ausgesucht.

Die Tendenz zu größerer Individualisierung geht gleichwohl einher mit einer wachsenden Sehnsucht nach Gemeinschaft und Zugehörigkeit. In unsicherer gewordenen Zeiten gewinnen die Partnerin oder der Partner, die eigene Familie und die Freund:innen einen neuen Wert. Diesen vertrauten Menschen will man an den eigenen Lebensereignissen Anteil geben und sie dazu um sich versammeln. Die Vernetzung über soziale Medien ermöglicht es dabei, auch über große Distanzen hinweg miteinander verbunden zu bleiben. Kasualien sind Anlässe, sich des eigenen Beziehungsnetzes zu versichern und es zu pflegen. Auch dazu sollen die zahlreichen Foto- und Filmaufnahmen dienen. Einschneidende Ereignisse wie die jüngste Corona-Krise oder die Flutkatastrophe im Sommer 2021 haben darüber hinaus viele den Wert des sozialen Zusammenhalts neu entdecken lassen: in der unmittelbaren Nachbarschaft, im Stadtquartier und im Dorf ebenso wie unter Bundesländern und ganzen Nationen. Allem Wunsch nach Privatheit zum Trotz werden Kasualien damit – bewusst oder unbewusst – zu öffentlichen Inszenierungen einzelner Menschen und ihrer Lebensgeschichten.

Die gleichzeitige Sehnsucht nach Individualität und Vergemeinschaftung schlägt sich in der gesellschaftlichen Milieubildung nieder (Hempelmann 2014/2016/2019). Menschen verbinden sich, sofern sie dazu die Möglichkeit haben, vorzugsweise mit Gleichgesinnten: mit Menschen, mit denen sie dieselben Ansichten, Befindlichkeiten und Vorlieben, Lebensstile und Lebensziele sowie den sozialen Hintergrund teilen. Das eigene Milieu prägt umgekehrt die kulturellen und ästhetischen Vorlieben und dementsprechend die Vorstellung von einer „schönen” und „gelungenen” Feier. Die Angehörigen unterschiedlicher Milieus grenzen sich dabei voneinander mitunter schroff ab („Diese Musik würde ich niemals hören!“, „Wer so ein Kleid trägt, ist …!“). Dies trennt nicht nur Städte in unterschiedliche Sozialräume, sondern kann selbst Familien und Freund:innen voneinander entfremden. Bei einer Kasualie treffen in der Regel Menschen aus sehr unterschiedlichen Lebenswelten aufeinander: Die Eltern oder Großeltern gehören oft einem anderen Milieu an als das Brautpaar oder die Taufeltern. Die einstigen Schulfreund:innen haben sich über die Jahre anders entwickelt und positioniert als man selbst. Und nicht zuletzt gehören auch Liturg:innen und Musiker:innen jeweils einem bestimmten Milieu an, das ihre Ansichten und Vorlieben prägt.

 

[Inhalt]
< 2 Herausforderungen 2.2 Übergang und Segen >

 

Beiträge zu “2.1 Individuum und Gemeinschaft

  1. Zweiter Absatz: Der Argumentation liegt eine Negativbewertung zugrunde: „in unsicherer gewordenen Zeiten“ – die Forschungslage (je nach konkreter Fragestellung) beweist, dass die Zeiten – zumindest in Deutschland – selten so sicher waren wie heute. Negative Verstärkungen von subjektiven Eindrücken können Verunsicherungen bei bestimmten Personengruppen erhöhen und sind daher nur wenig hilfreich (häufig wird es von Sondergemeinschaften eingesetzt, um verunsicherte Personen anzubinden).
    Von der Sehnsucht nach Gemeinschaft und Zugehörigkeit auf die sozialen Medien – Vernetzung – Einsatz von Medien bei den Feiern zu schließen, ist m.E. ebenfalls eine subjektive Bewertung, die i.d.R. aus ganz unterschiedlichen Motiven speist (z.B. Anreize der sozialen Medien, sich als Kommunikationsplattform, der Zugehörigkeit vermittelt, darzustellen – häufig genug ist das Gegenteil der Fall, Personengruppen werden beschimpft etc. )

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