Joachim Lenz, Propst von Jerusalem, wohnt keine hundert Meter von Golgatha entfernt, dem Ort, wo Jesus starb. Für ihn steht das Kreuz für Unrecht, Qual, Aussichtslosigkeit, Tod – und für Rettung.
Ein Kreuz am Halskettchen würde sie sich niemals umhängen, sagte meine Oma vor vielen Jahren einmal: Das sei ihr zu schwer. Es bedeutete ihr zu viel, um als Schmuckstück dienen zu können. Wie kam sie dazu? Das Logo unserer Evangelischen Kirche im Rheinland zeigt nicht das Kreuz, aber den Schatten des Kreuzes – weil das der Ort ist, wo wir leben. Warum ist uns das Kreuz so wichtig?
Ich wohne seit vergangenem Sommer in Jerusalem, keine hundert Meter entfernt von Golgatha – dem Ort, wo Jesus starb. Die aktuelle Archäologie sagt, dass Jesu Kreuz wirklich auf diesem Felsen stand, um den herum später die Grabeskirche gebaut wurde. Bei den Griechen heißt die Kirche „Anastasis“, Auferstehung. Auch wenn das Kreuz Jesu längst verschwunden ist – als Ereignis, Datum, als Symbol und Ankerpunkt des Glaubens ist es präsent. Wozu?
Schau deinen Nächsten an, dann siehst du Christus, hat Luther gelehrt. Rindviecher müssen immer auf die Erde schauen, aber Menschen sind so gebaut, dass sie in den Himmel sehen können, hat Calvin gesagt. Kluge Worte! Aber nicht in jeder menschlichen Begegnung spüre ich Gott, und der Himmel kann grau verhangen und undurchlässig sein. Wenn du Gott erkennen willst, musst du ans Kreuz schauen, sagt deshalb Eberhard Jüngel. Am Kreuz ist das Entscheidende von Gott zu lernen und zu erfahren, weil dort das Entscheidende passiert ist.
Es gibt keine christusfreien Zonen
Ans Kreuz schauen? In Colmar steht der berühmte Isenheimer Altar. Er wurde vor 500 Jahren für eine Hospitalkirche der Antoniter geschaffen. Die versorgten Kranke, insbesondere Menschen, die unter dem sogenannten Antoniusfeuer litten, einer höchst qualvollen Vergiftungskrankheit. Wer ins Hospital aufgenommen wurde, bekam zuerst einmal das Kreuz zu sehen – mit dem dort hängenden, zu Tode gequälten Christus. Er sieht auf dem Bild ähnlich elend aus, wie die Kranken sich fühlten. Sie sollten sehen: Ihr seid in der Nähe Gottes. Trotz allem, gerade jetzt! Jesus ist dorthin gegangen, wo ihr jetzt seid: in den Machtbereich von Leid und Tod. Deshalb seid ihr da nicht allein! Es gibt keine christusfreien Zonen, nicht im Leben, nicht im Sterben, nicht im Tod. Für euch hat Christus gelitten, für euch ist er gestorben – damit Gott bei euch ist, egal wo und wie ihr seid. Schaut hin!
Die Scheußlichkeit des Kreuzes lehrt zu verstehen, was Gott tut und wie Gott ist. Die ersten Gemeinden haben das Kreuz nicht als Symbol genutzt. In den Katakomben Roms finden sich in frühester christlicher Zeit wohl Darstellungen des guten Hirten, aber keine Kreuze. Bis ins vierte Jahrhundert wurden vorgebliche Verbrecher weiterhin gekreuzigt, also auf entsetzlichste Art zu Tode gequält. Wer das einmal miterlebt hatte, mochte mit dem Kreuz nichts verzieren – nicht die Kirche, nicht den Sarg. Das Kreuz steht für Unrecht, Qual, Aussichtslosigkeit und Tod – also für das, wovor wir uns fürchten.
Und es steht für Rettung. „Am Ende kann uns nur ein Gott retten, den wir uns nicht als größere Version von uns selbst zurechtgemacht haben. Gott steht nicht über dem Kreuz, um die Welt zu verdammen, sondern er hängt am Kreuz“, schreibt Nadia Bolz-Weber. Gott ist für uns da, gleich wo und wie wir sind: Auch das sehen wir am Kreuz. Wenn Gott selbst in schrecklichem Leid und Tod zugegen ist –wie könnten wir dann gottverlassen sein? Christus ist für uns gestorben, damit wir nirgendwo verloren gehen. Jesu Kreuz ist unsere Hoffnung. Schau hin!
Info: Zur Person
Der gebürtige Wuppertaler Joachim Lenz war nach seinem Theologiestudium zunächst Gemeindepfarrer im rheinland-pfälzischen Enkirch an der Mosel. Im Vorfeld des Deutschen Evangelischen Kirchentags 2007 in Köln wurde er für drei Jahre zum Kirchentagsbeauftragten der rheinischen Kirche berufen und arbeitete anschließend von 2008 bis 2015 als Pastor für den Deutschen Evangelischen Kirchentag. 2015 wechselte er für fünf Jahre als Theologischer Vorstand und Direktor zur Berliner Stadtmission. Bis zu seinem Amtsantritt in Jerusalem war er ehrenamtlicher Sprecher des Bündnisses United4Rescue.