Was unternimmt die Evangelische Kirche im Rheinland zur Prävention vor sexualisierter Gewalt?
Schon seit der erstmaligen Veröffentlichung der Handreichung „Die Zeit heilt keineswegs alle Wunden“ im Jahr 2002 gibt es in der rheinischen Kirche klare Leitlinien zum Umgang mit sexualisierter Gewalt. Mit Inkrafttreten des Kirchengesetzes zum Schutz vor sexualisierter Gewalt im Januar 2021 gilt die Verpflichtung für alle Mitarbeitenden zur Vorlage eines erweiterten Führungszeugnisses und zur Meldung von Verdachtsfällen. Außerdem müssen alle Körperschaften und Einrichtungen ein Schutzkonzept erstellen, also auch die Gemeinden und Kirchenkreise. Das Rahmenschutzkonzept der rheinischen Kirche ist dabei die Grundlage, auf der angepasste Schutzkonzepte vor Ort entstehen können. Bis heute haben so viele beruflich und ehrenamtlich Mitarbeitende eine Präventionsschulung durchlaufen wie in keiner anderen evangelischen Landeskirche (bis zum Jahreswechsel 2022/2023 insgesamt 502 Schulungen mit 6428 Teilnehmenden, allerdings mit großen Unterschieden bei den Kirchenkreisen). Im März 2023 wurde eine zusätzliche halbe Stelle für Schulungen eingerichtet.
Wohin können sich Betroffene wenden?
Als eine Art Lotsenführer zu diversen Hilfsangeboten stehen Betroffenen in vielen Kirchenkreisen inzwischen Vertrauenspersonen als Ansprechpartnerinnen und -partner zur Verfügung, ebenso die von Kirche oder Diakonie getragenen Beratungsstellen, ob in Nordrhein-Westfalen, in Rheinland-Pfalz, im Saarland oder in Hessen. Aber auch die Ansprechstelle für den Umgang mit Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung in der Evangelischen Hauptstelle für Familien- und Lebensberatung bietet Betroffenen, deren Angehörigen und anderen Ratsuchenden vertrauliche Beratung an. Ansprechpartnerin Claudia Paul ist unter Telefon 0211 3610-312 erreichbar. Wenn es um individuelle Anerkennungszahlungen geht, erhalten Betroffene Beratung bei der Fachstelle für den Umgang mit Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung (FUVSS) der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe (RWL).
Wird das Thema sexualisierte Gewalt zentral koordiniert?
Seit dem Frühjahr 2021 ist im Landeskirchenamt die zentrale Meldestelle für begründete Verdachtsfälle sexualisierter Gewalt eingerichtet. Sie ist unter Telefon 0211 4562-602 und per Mail an meldestelle@ekir.de erreichbar. Für die Gesamtkoordination aller Aktivitäten kam im Jahr 2022 die Stabsstelle Aufarbeitung und Prävention unter Leitung von Kirchenrat Jürgen Sohn hinzu. Beide Stellen sind unmittelbar dem Zuständigkeitsbereich von Vizepräses Christoph Pistorius zugeordnet.
Wie weit ist die rheinische Kirche mit der Aufarbeitung der Vergangenheit?
• Mit allen EKD-Gliedkirchen beteiligt sich die Evangelische Kirche im Rheinland am Forschungsverbund ForuM: Die Studie mit sechs Teilprojekten zu unterschiedlichen Aspekten will Ende 2023 erste Ergebnisse vorlegen. Im zweiten Projektschritt des Teilprojekts E wurden zuletzt bis Ende März 2023 alle Personal- und Disziplinarakten der rheinischen Kirche seit 1946 zur Ermittlung der Verdachtsfälle systematisch und mit externer juristischer Begleitung gesichtet.
• Im Rahmen einer 3. Gemeinsamen Erklärung von Evangelischer Kirche in Deutschland (EKD) und Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) sollen die letzten Fragen zur regionalen Aufarbeitung voraussichtlich im Herbst 2023 geklärt werden.
• Auf lokaler Ebene wird bereits fallbezogene Aufarbeitung mit wissenschaftlicher Unterstützung und unter Einbindung Betroffener betrieben. Die lokalen Ergebnisse fließen in die spätere regionale Aufarbeitung ein. Studienergebnisse der Bergischen Universität Wuppertal und der Fachhochschule Potsdam zur Aufarbeitung der Missbrauchsfälle im damaligen Schülerheim Martinstift in Moers in den 1950er Jahren wurden Ende März 2023 vorgestellt.
• Daneben bestehen Vorüberlegungen zu weiteren fallbezogenen Untersuchungen in Duisburg und Köln.
• Außerdem will die Evangelische Kirche im Rheinland zusammen mit den Landeskirchen von Bayern, Hannover und Hessen-Nassau sowie der EKD die Frage wissenschaftlich klären lassen, ob die Diskussion um eine liberalere Sexualerziehung in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts auch dazu geführt hat, dass sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen innerhalb der evangelischen Kirche strukturell begünstigt wurde. So wichtig die sexualpädagogischen Impulse dieser Zeit auch für die Entwicklung einer selbstbestimmten Sexualität waren, so sehr häufen sich aber zugleich Beispiele dafür, wie diese Impulse instrumentalisiert wurden, um sexualisierte Gewalt von Erwachsenen gegenüber Minderjährigen zu kaschieren und zu legitimieren. In der evangelischen Kirche zeitweise hoch angesehene Pädagogen wie Gerold Becker oder Helmut Kentler stehen mittlerweile für diese Form der Instrumentalisierung. Eine halbjährige Vorstudie soll nun zunächst die Quellenlage prüfen und dann eine Hauptstudie konzipieren.
Was hat die erste lokale Studie zu sexualisierter Gewalt auf dem Gebiet der rheinischen Kirche ergeben?
Die Studie „Aufarbeitung der gewaltförmigen Konstellation der 1950er Jahre im evangelischen Schülerheim Martinstift im Moers“ der Bergischen Universität Wuppertal und der Fachhochschule Potsdam hat schwere Versäumnisse von Kirche und Diakonie offengelegt. Die rund 80 Schüler, die in den 1950er Jahren in dem Alumnat (Schülerheim) schwerer körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren, wurden nach dem Gerichtsurteil gegen den damaligen Alumnatsleiter Johannes Keubler im Mai 1956 seitens der Kirche und Diakonie und zum Teil auch seitens ihrer eigenen Familien vollkommen alleingelassen. Im Vordergrund stand stattdessen das Bemühen, das Image des Alumnats und der Diakonie nicht zu beschädigen. Mit der endgültigen Schließung im Jahr 1969 geriet das Martinstift in Vergessenheit. Erst das Engagement zweier Betroffener rückte die Gewalttaten wieder ins Bewusstsein. Nach der Präsentation der Studienergebnisse haben Kirchenleitung, Kreissynodalvorstand, Presbyterium und Diakonievorstand im Rahmen eines Workshops am 4. Mai 2023 darüber beraten, welche Konsequenzen aus dem Forschungsbericht zu ziehen sind. Die Öffentlichkeit soll darüber Anfang Juni informiert werden.
Wann wird eine regionale Aufarbeitungskommission gebildet?
Geplant ist, dass die Evangelische Kirche im Rheinland, die Evangelische Kirche von Westfalen, die Lippische Landeskirche und die Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe eine gemeinsame regionale Aufarbeitungskommission bilden. Die Vorüberlegungen dazu sind abgeschlossen, sodass kein weiterer Zeitverzug entsteht, wenn voraussichtlich im Herbst 2023 die 3. Gemeinsame Erklärung von Evangelischer Kirche in Deutschland (EKD) und der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) vorliegt.
Welche Zahlen sind zu sexualisierter Gewalt auf dem rheinischen Kirchengebiet bisher bekannt?
Bei der Ansprechstelle für den Umgang mit Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung sind von Juni 2011 bis zum Jahreswechsel 2022/2023 rund 220 Beratungen zu dem Themenfeld erfolgt. In der im Frühjahr 2021 implementierten Meldestelle sind bis Ende 2022 insgesamt 46 Meldungen eingegangen, die sich aber zum Teil auch auf Jahre zurückliegende Vorfälle beziehen. Auf landeskirchlicher Ebene sind bisher 39 Fälle sexualisierter Gewalt bekannt (Pfarrpersonen und landeskirchliche Angestellte; darin sind aber keine ehrenamtlich oder beruflich Mitarbeitenden in den Kirchenkreisen und Gemeinden enthalten). Seit 2004 gab es in der rheinischen Landeskirche im Zusammenhang mit Verstößen gegen die sexuelle Selbstbestimmung 26 Disziplinarverfahren. Drei davon laufen noch. Die Verfahren betreffen/betrafen Kirchenbeamte, Lehrer und Pfarrpersonen. In zehn Fällen wurde auch staatlicherseits ermittelt. In der Zeit ruht das kirchliche Verfahren in der Regel. Nach Abschluss des staatlichen Verfahrens wird es – unabhängig von dessen Ausgang – unter Einbeziehung der Erkenntnisse der Justiz fortgeführt. Bisher wurden in 26 Fällen finanzielle Leistungen in Anerkennung des erlittenen Leids durch die Anerkennungskommission bewilligt (insgesamt 270.000 Euro); Dazu kommen 117 Fälle in der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe (insgesamt 1.555.000 Euro).
Hat sich die Evangelische Kirche im Rheinland eigentlich ausdrücklich zu ihrer Schuld bekannt?
Bei einem Radiogottesdienst zum Thema „Sexualisierte Gewalt und Kirche“ auf WDR 5 hat Vizepräses Christoph Pistorius am Sonntag, 27. Oktober 2019, ein nach wie vor gültiges Schuldbekenntnis formuliert.
Stand: Mai 2023