Der NRW-Innenminister bleibt auf Distanz. „Ich bin total angeschlagen“, sagt Herbert Reul, als er am Morgen die evangelische Johannes-Löh-Gesamtschule in Burscheid betritt. Ob er alle Termine des Tages bewältigen kann, lässt er noch offen. Aber auf die versprochene Diskussion mit den Oberstufenschüler*innen will der 72-Jährige auf keinen Fall verzichten. Das hat vielleicht damit zu tun, dass er vor mehr als 40 Jahren mal als Lehrer angefangen hat. Vor allem aber damit, dass er sich Sorgen macht um die Zukunft der Demokratie.
Als Reul im Verlauf der einstündigen Veranstaltung in der Aula gefragt wird, welche Botschaft er den Schülerinnen und Schülern mit auf den Weg geben will, antwortet er daher auch: „Mit den Botschaften hab‘ ich’s nicht mehr so. Aber ich habe eine Bitte: dass Sie sich politisch interessieren, engagieren und einmischen.“ Dass man in einer Demokratie nichts bewirken könne, sei „dummes Zeug“. Aber er macht auch immer wieder deutlich: „Politik ist kompliziert. Es gibt keine simplen Antworten.“
Vorbereitung durch drei Leistungskurse der Sozialwissenschaften
Seit dem vergangenen November stand Reul bei der Schule im Wort. Damals war er Podiumsgast des 29. Altenberger Forums Kirche und Politik und hatte im Schatten des Altenberger Doms über „Extremismus in unserer Gesellschaft“ diskutiert. Im Publikum saßen aus Burscheid auch die drei Leistungskurse der Sozialwissenschaften – und sprachen im Anschluss die Einladung in die Johannes-Löh-Schule aus. Die drei Leistungskurse und ihre Lehrerin Kerstin Felkel waren es auch, die den Morgen in der Schulaula vorbereitet hatten: Je zwei Schüler*innen aus jedem Kurs plus Moderatorin sitzen mit Reul auf dem Podium, dazu vor der Bühne weitere „Anwälte des Publikums“ für Fragen aus dem Saal. „Ich bin stolz auf die Kurse“, wird Rektorin Angelika Büscher zum Abschluss der Diskussion loben. „Das Niveau war nicht schlechter als bei einer Talkshow.“
Auch Reul von Umwälzungen der Gegenwart überrascht
In der Tat: Konzentriert arbeiten die Jugendlichen ihre vorbereiteten Fragen zu den unterschiedlichen Themenfeldern ab: von innerer Sicherheit über die aktuelle politische Lage in Deutschland und Reuls Werdegang bis zur Außenpolitik, der Migration und dem Klimaschutz. Und Reul antwortet in der ihm eigenen Direktheit: klar, ungeschminkt und zur Not auch unbequem. Und immer wieder gibt er zu erkennen, dass die politischen Umwälzungen der Gegenwart auch einen gestandenen Politprofi wie ihn überraschen und zum Umdenken nötigen. Aufrüstung? „Das hätte ich mir nicht vorstellen können, dass ich mal dafür bin.“ Verschärfte Grenzkontrollen? „Vor ein paar Jahren wäre ich noch dagegen gewesen, aber jetzt könnten sie eine Hilfe sein.“ Aufnahme der Türkei in die EU? „Früher hätte ich es für möglich gehalten, jetzt für vorläufig unmöglich.“ 20 Prozent für die AfD? „Ich hätte nie gedacht, dass es noch mal so weit kommt.“
Beunruhigendes Misstrauen gegenüber dem Staat
Dass mittlerweile 70 Prozent der Bevölkerung die Funktionsfähigkeit des Staates anzweifeln, treibt den CDU-Politiker um. Für die Mühen und mitunter zähen Prozesse des Demokratiebetriebs um Verständnis zu werben, sieht er daher als seine Aufgabe an. Und will mit seinen Erklärungen den Vereinfachern und Populisten der politischen Extreme das Wasser abgraben. „Die müssen es schaffen“, formuliert er als Erwartung an die neue Bundesregierung. Denn die Zeit drängt, auch wenn Reul immer wieder gerne das Max-Weber-Zitat zückt: „Politik ist das Bohren dicker Bretter.“
Weitere Veranstaltungen dieses Formats sollen folgen
An der Johannes-Löh-Gesamtschule soll der Reul-Auftritt kein Einzelfall bleiben. Auch der Burscheider Bürgermeister war schon zu Gast, weitere Einladungen in dem Format sind geplant. Und Rektorin Büscher gibt ihren Schülerinnen und Schülern noch mit auf den Weg: „Politisch engagieren kann man sich auch schon in der Schülervertretung.“