Es ist Sonntagabend. 22.35 Uhr. Der letzte Zug ist eben abgefahren. Die anderen Gleise sind längst leer. Der Wind weht einen leeren Pappbecher über den Bahnsteig. Zwei, drei Tauben suchen noch nach Essensresten. Nur eine Gruppe von zehn, elf Männern steht noch am Gleis. Sie sind offensichtlich nicht von hier, nicht aus der Hauptstadt. Sie stehen da und schauen dem Zug hinterher. Wie er kleiner, immer kleiner wird und dann ganz verschwindet.
22.37 Uhr. 22.38 Uhr. Ein paar der Männer fingern an ihren Handys. Keiner von ihnen spricht, weiß etwas zu sagen. Oder zu tun. Sie stehen nur da, als warteten sie auf den abgefahrenen Zug. Wie bestellt und nicht abgeholt. Lost in space and time.
22.39 Uhr. Sechs ganze Wochen ist er jetzt noch einmal dagewesen. Ein Nachschlag, nachdem sie ihn schon einmal verloren hatten. Sie haben mit ihm gegessen, immer wieder Zeit verbracht. Viel geredet. Über ihre gemeinsame Zeit, über sein Ende. Wie es sein konnte, dass er trotzdem wieder da war. Und vor allem darüber, wie es jetzt weitergehen sollte. Was jetzt geschehen, was mit ihnen werden würde. Mit ihrer großen Hoffnung, ihrem Glauben. Doch nun ist er endgültig fort. Mit dem letzten Zug. Sie stehen da. Und warten, dass etwas passiert. Irgendwie.
22.41 Uhr. Plötzlich knackt der Lautsprecher. Die Stimme der Bahnhofvorsteherin. „Hier eine besondere Durchsage für die Gruppe auf Gleis 12. Der letzte Zug ist abgefahren. Es lohnt nicht, weiter hinterherzusehen. Für Sie wurde aber folgende Nachricht hinterlassen: „Das ist nicht das Ende, sondern der Anfang. Bleibt in der Stadt. Ihr werdet Gottes Geist erfahren. Dann ist es an Euch.“ Ende der Nachricht. Was auch immer das heißen mag. Wir machen hier zumindest gleich Feierabend. Gute Nacht!“ Eine der Tauben ist bei der Durchsage aufgeflogen.
Die Bahnhofsuhr zeigt 22 Uhr 43.
So oder so ähnlich würde die Geschichte von Himmelfahrt vielleicht lauten, wenn Lukas sie heute erzählen würde. Es ist eine Geschichte des Abschiednehmens und Loslassens. Lukas berichtet als einziger Evangelist von der Himmelfahrt. Dafür kommt sie bei ihm gleich zweimal vor: am Ende des von ihm verfassten Evangeliums und am Anfang der ebenfalls von ihm geschriebenen Apostelgeschichte. 40 Tage lang, so erzählt Lukas, erschien der auferstandene Jesus Christus seinen Jüngerinnen und Jüngern. Aß mit ihnen, sprach mit ihnen, ließ sich von ihnen berühren. Christus sagte ihnen nicht, wann Gottes Reich errichtet würde. Aber er sagte ihnen zu, dass sie Gottes Geist empfangen würden. Und dass sie seine Zeugen sein würden – bis an die Enden der Erde. Wobei der auferstandene Christus vielleicht an die dunklen Wälder Germaniens gedacht haben könnte. Doch dann fuhr er vor ihren Augen auf gen Himmel.
Himmelfahrt – das war damals das Ende der Zeit, in der der auferstandene Christus physisch, körperlich erfahrbar war. Das ist eine Erfahrung, die von uns niemand mehr gemacht hat. Niemand von uns hat mit ihm gegessen, ihn angefasst, die Finger in seine Wunde gelegt. Wir kennen Christus nur aus der Bibel, dem Zeugnis anderer von ihm, aus eigener Glaubenserfahrung. Aber nicht physisch.
Wenn wir heute Himmelfahrt feiern, erinnern wir an das, was damals geschah – aber wir tun es auch aus einem anderen Grund. Es geht um das Abschiednehmen und Loslassen unseres Glaubens. Den Abschied von einem Glauben, der sich an anderen festmacht. Ein Loslassen von der Autorität anderer Personen.
Als ich ein Kind war, las uns unsere Mutter aus der Kinderbibel vor, betete abends mit uns. Und ich glaubte mit ihr.
Als ich älter wurde, erzählten mir meine Lehrerin, der Pfarrer, andere Menschen von Gott. Und ich glaubte mit ihnen.
Als ich im Studium war, entfalteten mir andere theologische Gedanken und biblische Texte. Und ich glaubte mit ihnen.
Unser Glaube lebt davon, dass andere uns davon erzählen. Doch irgendwann sind die Men-schen nicht mehr da, die mir meinen Glauben vermittelt haben. Sie oder ich sind weggezogen. Die Wege trennten sich. Manche sind gestorben. Dann muss der Glaube auf eigenen Füßen stehen, erwachsen werden, sich lösen von der Gegenwart und Autorität anderer.
Erwachsen glauben – das geschieht, wenn wir Gottes Geist in uns erfahren, wenn wir selbst anfangen, aus seiner Kraft zu leben und für andere zu Christen zu werden.
Erwachsen glauben – das geschieht beispielhaft an Himmelfahrt. Christus schafft Raum, damit sich unser Glaube entfalten kann. Damit wir uns als Christinnen und Christen entfalten können. An die Stelle des Christus neben uns tritt „Christus in uns“. Gottes Geist wirkt in uns und macht uns zu seinen Zeugen.
Wenn heute jemand Christus begegnet, dann weil er auf die Gemeinschaft derer trifft, die Jesus Christus nachfolgen. Wie Dietrich Bonhoeffer sagt: Christus als Gemeinde existierend. An die Stelle des Christus neben uns tritt der Christus in uns. Und an die Stelle eines Glaubens, der auf Autoritäten ruht, tritt ein erwachsener Glauben, der loslässt und Abschied nimmt.
Erwachsen glauben – darum geht es immer wieder in den Evangelien. Wenn Jesus Christus bei der „Speisung der 5.000“ sagt: „Gebt ihr ihnen zu essen.“ Wenn Jesus bei Heilungen immer erst fragt: „Was willst Du, dass ich dir tue?“ und am Ende sagt: „Dein Glaube hat dir geholfen.“ Wenn Jesus die Jüngerinnen und Jünger ausschickt, damit sie Kranke heilen, Traurige trösten, Armen das Evangelium sagen. Dann geht es genau darum:
- Werde für andere zum Christus!
- Lass Gottes Geist in Dir wirken!
- Lebe mutig und frei Deinen erwachsenen Glauben!
- Hoffe und zweifle Dich durch!
Ein erwachsener Glaube schließt das tiefe, kindliche Urvertrauen ein, von Gott behütet und bewahrt zu sein. Und zugleich übernimmt er selbst Verantwortung. Er wagt es, selbst zu denken, zu zweifeln, sich auch im Glauben seines eigenen Verstandes zu bedienen. Ein erwachsener Glaube hat den Mut, sich wie Jesus vom Geist in die Wüste führen zu lassen und dem Bösen zu widerstehen. Sich mit den Dämonen von Hass und Hetze unserer Zeit anzulegen. Der Zerstörung von Gottes Schöpfung zu widersprechen. Oder das himmelschreiende Unrecht beim Namen zu nennen, wenn Kinder weltweit oder in unserem Land hungern müssen.
Erwachsen glauben – das heißt auch, sich von manchen Bildern zu lösen, wie Kirche und Gemeinde in früheren Zeiten gewesen ist:
„Damals, als Jesus noch auf Erden weilte, …“
„Damals, als die Jugend noch ordentlich war, …“
„Damals, als noch fast alle Menschen in der Kirche waren, …“
Wer die Geschichte der Kirche wahrnimmt, weiß, dass Glauben nie einfach war und die Kirche immer vor Herausforderungen stand. Es ist wichtig, dass wir uns mutig den Aufgaben unserer Zeit stellen – und nicht in Erinnerung an irgendwelche alten Zeiten schwelgen.
Es ist 22.43 Uhr. Der letzte Zug ist abgefahren. Die Bahnhofsuhr tickt weiter. Doch die Ansage der Bahnhofsvorsteherin ändert den Blick der Männer: „Das ist nicht das Ende, sondern der Anfang. Bleibt in der Stadt. Ihr werdet Gottes Geist erfahren. Dann ist es an Euch.“ Statt dem Zug hinterherzuschauen, sehen sie auf das, was vor ihnen liegt. Morgen um 6.00 Uhr wird ihr Wecker klingeln. Sie werden aufstehen, duschen, sich anziehen, frühstücken. Und warten. Warten und beten, dass Gottes Geist sie stärkt. Und dann werden sie loslegen: Sie werden Kranken helfen, Traurige trösten und Armen das Evangelium sagen – in Jesu Namen.
Sie wissen nicht, wann er wiederkommt. Doch so lange werden sie ihren Glauben erwachsen leben. Und genau das sollten wir als „Erwachsen Glaubende“ auch tun: Beten und Tun des Gerechten und Warten auf Gottes Reich.
Eine gesegnete Himmelfahrt!
Theologische Impulse (138) von Präses Dr. Thorsten Latzel
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