„Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein helles Licht“ – Krieg und Frieden im Advent

Sie gehören zu den großen messianischen Verheißungen des Volkes Israels: die alten Verse aus Jesaja 9. „Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein helles Licht, und über denen, die wohnen im finstern Lande, scheint es hell.“ In Zeiten von Krieg, Verfolgung und Unterdrückung haben Menschen seit über 2.500 Jahren aus ihnen Trost und Hoffnung geschöpft. Eine unbändige, grenzenlose Hoffnung über das hinaus, was sie selbst sehen, machen oder verstehen konnten.

In poetischer Sprache wird in ihnen der Ursprung dieses Lichtes beschrieben. Es geht um überschwängliche Freude – weil Gott die Gewalt der Unterdrücker zerbricht. „Denn du hast ihr drückendes Joch, die Jochstange auf ihrer Schulter und den Stecken ihres Treibers zerbrochen wie am Tage Midians. Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt.“
Die Instrumente der Unterdrücker werden ebenso vernichtet wie ihre angstmachende, bluttriefende Uniform: ihre Schlagstöcke, Schilde und Stiefel. Ihre Drohnen, Bomben und Raketen. Ihre ganze Logik der Zerstörung. Und die Träger von Stecken, Stiefel, Mantel? Es wird hier nicht expliziert, nur angedeutet – „wie am Tage Midians“. Die Midianiter: mal Feind, mal Freund, historisch kaum zu fassen. Für mich geht es hier um die Vernichtung des Krieges, nicht der Krieger, der Gewalt, nicht der Gewalttäter. Das ist der erste Grund: Gott macht der Gewalt ein Ende.

Der zweite Grund: Es bricht eine neue Herrschaft des Rechts an – personifiziert in der Geburt des neuen Friedenskönigs: „Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst; auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, dass er’s stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit.“ Ein Kind als König an Stelle von Kriegern. Inbegriff der Logik des Friedens, einer wundersam verwandelten Welt. Frieden, Schalom, wird hier wie meist in der Bibel umfassend gedacht – verbunden mit Heil, Recht, Freiheit, Gerechtigkeit.

Es sind machtvolle Bilder, starke, fast mystische Worte, die mehr verheißen, als ich erfassen oder begreifen könnte: Frieden ohne Ende, ewige Gerechtigkeit, „Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst“. Es geht um die unmöglichen Möglichkeiten Gottes. Mit diesen alten Worten bin ich groß geworden. Ich habe sie jedes Jahr wieder im Advent gehört, gelesen, selbst gesprochen. Doch in diesem Jahr bewegen sie mich besonders. Gerade angesichts der erdrückenden Gewalterfahrungen so vieler Völker.

Das Leiden der Menschen in Israel und Palästina. In Israel, wo über 1.200 Menschen von der Hamas getötet wurden, israelische Geiseln noch immer entführt sind, das Land von verschiedenen Seiten mit Raketen angegriffen wird. Im Gazastreifen, wo Millionen Menschen unter den Bombenangriffen und dem Bodenkrieg leiden, immer wieder vertrieben werden, von sauberem Trinkwasser, Nahrung, Medikamenten abgeschnitten sind, unter menschenunwürdigen Umständen leben. Im Libanon, in Syrien, in Afghanistan, im Sudan, im Jemen, in Somalia, in Mali, im Kongo, auf Haiti, in Kolumbien. Menschenrechte sind unteilbar. Sie gelten für alle – unabhängig ihrer Herkunft, ihres Wohnortes, ihrer Nationalität. Doch es sind so viele Orte von Krieg und Gewalt, dass sie in den Nachrichten kaum mehr alle Platz haben.

Oder der Krieg in der Ukraine, mitten in Europa, der durch die mehr als eine Millionen Geflüchtete bei uns unmittelbar präsent ist. Seit über tausend Tagen leiden die Menschen unter dem russischen Angriffskrieg. In diesem Winter noch intensiver als zuvor, da die Bombenangriffe der russischen Armee weiter verstärkt und die zivile Infrastruktur im ganzen Land ganz gezielt zerstört wird. „Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein helles Licht.“ Für viele Ukrainer/innen ist „helles Licht“ in der Nacht verbunden mit Drohnen, Raketen und Explosionen. Der reformierte Bischof Sándor Zán Fábián, den ich vor zwei Jahren in der Karpato-Ukraine besucht habe, erzählte mir kürzlich bei einer Zoomschaltung, wie der Alltag bei ihnen aussieht. Die Kosten für Grundnahrungsmittel und Treibstoff sind exorbitant. Der Strom fällt täglich für acht bis zehn Stunden aus – mit verheerenden physischen und mentalen Folgen. Die Gemeinden versuchen den elementaren Bedürfnissen der Zurückgebliebenen und vielen Binnenvertriebenen irgendwie gerecht zu werden. Von dem Krieg am stärksten betroffen sind alleingelassene Kinder, Familien, Alte und Menschen mit Behinderungen. Doch je länger der Krieg andauert, desto größeren Herausforderungen sieht sich die Kirche gegenüber. Allein über ihre 26 Suppenküchen versorgen sie täglich rund 1.300 Menschen. Als Evangelische Kirche im Rheinland konnten wir mit der dankenswerten Unterstützung der Johanniter die diakonische Arbeit in der Ukraine mit 100.000 Euro für Notstromversorgung, Suppenküchen und Brennholz fördern. Das beendet nicht den Krieg, aber hilft den Menschen vor Ort.

In Deutschland wird zurzeit viel davon gesprochen, dass es Frieden in der Ukraine geben müsse. Das kann ich teilen. Wir müssen wieder heraus aus Krieg, Militarisierung, der Logik von Waffen und Gewalt. Das kostet Menschenleben, schafft Traumata, vernichtet Milliarden, die wir dringend für bessere Zwecke bräuchten. Aber es muss ein gerechter Frieden sein, ein Frieden für die Menschen in der Ukraine, nicht auf ihre Kosten. Ein Frieden, der nicht nur das Kämpfen beendet, sondern auch keine neue Unterdrückung begründet. „Denn du hast ihr drückendes Joch, die Jochstange auf ihrer Schulter und den Stecken ihres Treibers zerbrochen wie am Tage Midians.“

Das Schweigen der Waffen wäre ein so wichtiger Schritt. Doch dazu braucht es den Willen des Aggressors. Bis dahin gilt es aus meiner Sicht, mit den Unterdrückten solidarisch zu sein, ihre Not zu lindern und sie in ihrem Völkerrecht zu stärken, sich gegen unrechtmäßige, menschenverachtende Gewalt zu verteidigen. Es gilt der Gewalt zu wehren, bis die Logik der Gewalt zerbricht.

Und es gilt zu beten, dass Gott dem sinnlosen Töten endlich ein Ende macht, dass Gott Frieden schafft, wo wir nicht mehr weiter wissen, dass sein Friede unter uns wirklich werde. „Beten, Tun des Gerechten und Warten auf Gottes Reich“ (D. Bonhoeffer) – das ist unsere Aufgabe, das heißt Leben im Advent.

Dazu brauche ich sie, die alten, großen Verheißungen: um nicht die Hoffnung zu verlieren für die Menschen an den vielen Orten der Gewalt, um nicht nachzulassen im Engagement für die Unterdrückten, um nicht an der Welt irre zu werden. Ich brauche den Glauben an das Kind, den Friedenskönig, der Kriege zerbricht und Menschen verwandelt. Ich brauche den Glauben an Gottes unmögliche Möglichkeiten. „Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, […] und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst.“


Theologische Impulse (152) von Präses Dr. Thorsten Latzel

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Als Buch: www.bod.de
Bild: Pixabay

  • 07.12.2024
  • Thorsten Latzel
  • Red