Jüdisches Leben soll wieder sichtbarer werden

Die Juden in Köln dürften kaum begeistert gewesen sein: Im Jahr 321 verfügte der römische Kaiser Konstantin, dass sie fortan von städtischen Verwaltungsämtern nicht mehr befreit sein sollten. Mit diesen Ämtern verbunden war die Pflicht, dem Kaiser als Gott zu opfern – für fromme Juden war das verbotener Götzendienst. Aus heutiger Sicht ist die Urkunde aus einem anderen Grund etwas Besonderes: Sie gilt als erster Nachweis für jüdisches Leben nördlich der Alpen und ist Anlass für das Themenjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“.

Das rechtsrheinische Mülheim gehört erst seit 1914 zur Stadt Köln. Und die erste urkundliche Erwähnung eines Mülheimer Juden stammt gerade mal aus dem Jahr 1656. Die kleine Mülheimer Synagogengemeinde konnte sich nie einen eigenen Rabbiner leisten. Und doch lässt sich am Beispiel des alten jüdischen Friedhofs am Neurather Ring in Mülheim, in direkter Nachbarschaft zum Bahngleisstrang gen Norden, ein ganzes Kaleidoskop jüdischen Lebens am Rhein entfalten. Zwei evangelische Pfarrer im Ruhestand, Dietrich Grütjen und Hartmut Schloemann, haben diese Arbeit in Zusammenarbeit mit der Geschichtswerkstatt Köln-Mülheim auf sich genommen – ein Einzelbeispiel aus mehr als tausend Projekten und Veranstaltungen, die in diesem Jahr die lange Geschichte jüdischen Lebens in Deutschland sicht- und erlebbar machen wollen.

Arbeitskreis auf den Spuren jüdischen Lebens in Köln-Mülheim

Grütjen, vor seiner Zeit als Krankenhausseelsorger in der Psychiatrie Köln-Merheim von 1974 bis 1981 selbst Pfarrer in Mülheim, hat sich immer wieder mit dem dortigen jüdischen Friedhof befasst.  Schon 1978, 40 Jahre nach den Novemberpogromen, entstand auf Initiative der evangelischen und der katholischen Gemeinde ein Arbeitskreis, der sich auf die Spuren jüdischen Lebens in Mülheim begab. Im Vorfeld des Festjahres übernahm Grütjen die Aufgabe, eine Dokumentation des alten jüdischen Friedhofs zu erstellen. Die Fotografien der 160 Grabsteine machte sein Kollege Hartmut Schloemann, die Übersetzungen aus dem Hebräischen steuerte Thomas Pulm bei. Ein gut 30-minütiges Video ist bereits fertig, noch in diesem Monat soll eine begleitende Broschüre gedruckt werden und im Frühjahr ist die Veröffentlichung der Dokumentation auf der Homepage der Geschichtswerkstatt Mülheim geplant.

Letztes Begräbnis im April 1942

Das älteste Grab auf dem Friedhof stammt von 1753, das jüngste vom April 1942: Helene Speier-Holstein hielt die Belastungen im Sammellager vor der Deportation nicht aus und starb noch in Köln an einer Herzerkrankung. Sie wurde als letzte Mülheimer Jüdin auf dem Friedhofsgelände beerdigt. Aber sie war nicht die letzte Verstorbene, derer auf dem Gelände bis heute gedacht wird: Mehrere Familien haben nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf den Grabsteinen ihrer Angehörigen auch an die familiären Opfer des Holocaust erinnert.

Viele Veranstaltungen in Nordrhein-Westfalen

Nordrhein-Westfalen wird einen Schwerpunkt der für dieses Themenjahr geplanten Veranstaltungen bilden. „Gerade in Zeiten eines wieder wachsenden dumpfen Antisemitismus ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass jüdisches Leben über viele Jahrhunderte hinweg die Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft in Deutschland bereichert haben“, betonte Matthias Löb vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe bei der Präsentation des NRW-Veranstaltungsprogramms.

Heute leben wieder rund 95.000 Jüdinnen und Juden in Deutschland

Nach dem Krieg lebten nur noch etwa 23.000 Juden in Deutschland, die meisten im Westen. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts wanderten dann viele Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen UdSSR nach Deutschland ein. Heute ist ihre Zahl in Deutschland wieder auf rund 95.000 angewachsen. Die Judenfeindlichkeit allerdings nimmt laut einem Lagebild des Verfassungsschutzes vom August ebenfalls zu und ist besonders unter Rechtsextremisten vertreten. Die Zahl der antisemitischen Gewalttaten hat sich zwischen 2017 und 2019 nahezu verdoppelt.

Lange gemeinsame Tradition Grund zum Feiern

„Jüdische Menschen waren Teil dieses Landes, und sie sind es heute wieder“, sagt Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. „Damit das so bleibt, bleibt noch viel zu tun. Aber 1700 Jahre gemeinsame Tradition darf man feiern – ebenso wie die gemeinsame Gegenwart und Zukunft.“ (mit epd)


Nähere Informationen zu dem Themenjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ finden sich hier.

  • 6.1.2021
  • Ekkehard Rüger
  • Hartmut Schloemann