Von verordneter und sich ereignender Ruhe – Karfreitag und Ostern in Corona 2021

Ruhe – selten hat ein Begriff so sehr das Gegenteil von dem bewirkt, was er besagt, wie in diesen Tagen. Die verordneten „Ruhetage“ sind wieder zurückgenommen worden. Zu Recht. Zugleich ist Ruhe vielleicht gerade das, was unsere ebenso erschöpfte wie erregte Gesellschaft in der kommenden Zeit besonders braucht. Ich auch. Eine tiefere, innere Ruhe, die nicht verordnet wird, sondern sich ereignet. Die mir persönlich widerfährt. Eine Ruhe, die uns hilft, mit der Pandemie klarzukommen – und die eng mit dem Geschehen von Ostern verbunden ist.

Im Hebräerbrief gibt es einen, wie ich finde, wunderschönen Satz: „Es ist noch eine Ruhe vorhanden in Gott.“ Der Satz beschreibt eindrücklich, wie Menschen damals Gott ersehnt und erfahren haben – als Quelle, um mitten in einer Zeit heftiger äußerer Bedrängnis zur Ruhe zu kommen. Um solch eine sich ereignende Ruhe geht es auch in der Kar- und Osterwoche. Und darum, wie sie mir begegnet.

1. Ersehnte Ruhe: An Gründonnerstag, in der „Nacht, da er verraten ward“, geht Jesus in den Garten Gethsemane, um zu beten. Um zu Gott und zu sich selbst zu finden. Um zur Ruhe zu kommen. Sehr einfühlsam beschreiben die Evangelien diesen Weg in die Stille – und wie schwierig es mit der inneren Ruhe ist: Da ist der Garten als Ort der Einkehr, die Nacht als Zeit der Stille. Jesus lässt seine Jünger nach und nach zurück, erst die acht anderen, dann auch die engsten drei, Petrus, Johannes und Jakobus. Am Ende ist er ganz allein. Und er ringt körperlich darum, zu Gott, zur Ruhe zu kommen. Bittet um einen Ausweg, Hilfe, Beistand. Dreimal betet er so. Doch es tut sich keine Lösung auf. Am Ende fügt er sich in das, was kommt. Und was ihm doch schwerfällt, als Gottes Wille zu begreifen.

In Jesu innerem Kampf im Garten haben Menschen späterer Zeiten sich selber oft wiederentdeckt. Wenn sie Stille, Ruhe ersehnt haben und doch erfahren mussten, dass sie sich nicht machen lässt. Wenn die Sorgen im Kopf kreisen, einen die Nachrichten nicht mehr loslassen. Ich kann einen äußeren Rahmen schaffen, mich zurückziehen, darum beten – doch, dass sich die ersehnte Ruhe in mir ereignet, liegt nicht in meiner Hand. Ich suche Gott, innere Stille, doch beide, Gott und Stille, widerfahren mir. Oder bleiben mir auch verborgen. Wie Jesus in Gethsemane.

2. Erlittene Ruhe: Um eine ganz andere Ruhe geht es dann an Karfreitag. Die Grabesruhe. Der Tod als ultimativer Stillmacher. Das Kreuz Christi als Sinnbild für erlittene Ruhe, für das schmerzvolle Scheitern menschlichen Lebens. Eine bittere Erfahrung, die viele auch in der Corona-Zeit machen müssen. Beim Sterben eines Menschen, der einem nahestand. Oder wenn eigene Hoffnungen, Lebenspläne durchkreuzt wurden. Das Geschäft liegt verlassen da, niemand kann zum Geburtstag kommen, die Stille in meinen Räumen wird zum Klang der Einsamkeit. Eine Stille, die bedrückt und nicht befreit. Mein Leben wird brachial ausgebremst. Alles auf null. Nichts geht mehr. Es gehört zur Kar- und Osterwoche, gerade auch diesen Erfahrungen Raum zu geben. Den Lebensverlusten in der Pandemie.

Und vielleicht bekommt in der Zeit von Corona der Karsamstag eine besondere Bedeutung. Die Zeit zwischen Kreuz und Auferstehung. Die Zeit dazwischen, wo augenscheinlich „nichts passiert“. Die Kirchenglocken schweigen. Die Stunden werden nicht mehr gezählt. Die Geschichte ist wie eingefroren. Ich habe mit diesem Tag lange Zeit nichts anfangen können. Geduld gehört nicht zu meinen Stärken, und meine Frau war sichtlich amüsiert, als ich ihr erzählte, dass ich über Ruhe nachdenke. Darin bin ich ganz Kind unserer Zeit. Ich merke, wie sehr ich daran gewöhnt bin, dass die „Welt“ verfügbar ist: jetzt, sofort, auf Knopfdruck. Warten war gestern. So wirkt auch der Karsamstag, der Ruhetag dazwischen, wie ein Relikt aus einer anderen Zeit. Und vielleicht kann er gerade deshalb so wichtig werden. Wenn sich an ihm etwas in mir ereignet. Subkutan, unbemerkt, ohne dass ich begreife, wie. Wenn sich die Ruhe, die ich erleide, auf verborgene Weise verwandelt. In den biblischen Geschichten wird nicht berichtet, was in dieser Zeit geschah. Weil es nichts zu sehen, zu schildern, zu erzählen gab. Nur die kleine Zeitangabe ist hier wichtig: „Und als der Sabbat vergangen war …“. Es geht um eine Stille von besonderer Qualität. Darin klingt der Sabbat vom Beginn der Schöpfung an. Der Tag, an dem Gott selbst ruhte. Und der zugleich zum Beginn alles Folgenden wurde.

3. Befreiende Ruhe: Und dann folgt Ostern, wenn wir eine tiefe, verwandelte Ruhe anderer Art feiern. Die befreiende Stille des leeren Grabes. Die Leerstelle: „Er ist nicht hier!“, wird zum Freiraum. Es ist die Zeit, in der einem Engel begegnen können und auf einen neuen Weg weisen: „Er wird vor euch hergehen nach Galiläa. Dort werdet ihr ihn sehen.“ Ostern feiern wir diese Ruhe aus Gott. Eine Ruhe, die mich verändert, neu ausrichtet, aufbrechen lässt. Der Verlust ist noch da. So wie die Verluste und Verletzungen, die wir auf verschiedene Weise in der Pandemie erlitten haben. Doch ich selbst, mein Leben werden durch sie nicht mehr beherrscht. So wie Christus auferstanden ist, werde ich auferweckt aus den Todesräumen meines Lebens. Um neu zu „meinem Galiläa“ aufzubrechen. Galiläa war die Heimat Jesu und seiner Jünger, in der ihr gemeinsamer Weg begann. Galiläa steht für meinen Alltag, in den ich selbst neu, verwandelt zurückkomme. Das Geschäft mag noch immer leer stehen, meine Wohnung noch immer allein: Doch ich kann anders damit umgehen, wenn mir diese verwandelte, innere Ruhe widerfährt. Wenn ich die Kraft der Auferstehung erfahre.

Als schönes Zeichen dafür gab es früher den Brauch des Osterlachens (risus paschalis). In der Predigt wurde die Gemeinde durch Ostermärlein und Schmunzelgeschichten zum Lachen gebracht, um die Stille der Kartage zu beenden und zu einer neuen, befreiten, inneren Ruhe zu finden. Humor als geistlicher Trotz und Trost wider den Tod. Ein kleiner Karneval nach der Passion. Ein Brauch, den manche Kolleginnen und Kollegen heute wiederbeleben.

Wegen dieser inneren Ruhe und der Kraft der Auferstehung ist es mir wichtig, Ostern zu feiern – hygienisch sorgsam, digital oder analog, gerade mitten in der Pandemie. Es hilft mir, mit der ersehnten wie erlittenen Ruhe anders umzugehen. Eine so verstandene Ruhe ist dann nicht die „erste Bürgerpflicht“, sondern die „erste Auferstehungsgabe Gottes“.

Oster-Unruhe

Als die Frauen sahen,
dass das Grab leer war,
wurde es lebensstill.

Und der Engel sprach zwei kleine Sätze,
die die Totenruhe bis heute stören:
„Er ist auferstanden. Er ist nicht hier.“ (TL)

 


Theologische Impulse (83) von Dr. Thorsten Latzel, Präses

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  • 27.3.2021