„Wir leben Vielfalt in der Kita“

„Let’s celebrate diversity“: Unter diesem Motto wird am 31. Mai 2022 zum zehnten Mal der Deutsche Diversity-Tag gefeiert. Wie bunt unsere Gesellschaft ist, zeigt sich bereits in der Kita. Welche Herausforderungen und welche Chancen diese Vielfalt mit sich bringt, weiß man in der evangelischen Kita Oberlinhaus in Saarbrücken-Dudweiler. Dort wird bereits seit 25 Jahren erfolgreich Diversität gelebt.

Drei Mädchen spielen am Tisch mit Puppen verschiedener Hautfarben. Ein paar Meter weiter wird in der „Werkstatt“ gewerkelt und gemalt. Und in der Turnhalle eine Etage tiefer toben Jungs und Mädchen ausgelassen miteinander. Dass sie verschiedener Herkunft sind und nicht immer dieselbe Muttersprache sprechen? Kein Problem! „Wir leben Vielfalt“, bringt es Sabine Ganz-Martin, Leiterin der Evangelischen Kita Oberlinhaus in Saarbrücken-Dudweiler auf den Punkt. 85 Kinder aus 21 verschiedenen Nationen mit entsprechend verschiedenen Sprachen, Kulturen und Religionen besuchen die Kita Oberlinhaus. Zehn davon gehen in die U3-Betreuung. „Für die Kinder ist Diversität normal. Berührungsängste und Ausgrenzung gibt es nicht“, berichtet Ganz-Martin. Dazu passt auch das offene Konzept: Die Kinder sind zwar vier Gruppen zugeordnet, dürfen sich aber frei im Haus bewegen. Natürlich gebe es auch mal Streit, wer wo mitspielen dürfe. „Das ist ja normal. Aber es liegt dann nicht an der Hautfarbe.“

Spielzeug spiegelt Vielfalt wider

Vielfalt begegnet einem hier auch bei der Ausstattung. Es gibt Weltkarten-Puzzles und Buntstifte für jeden Hautton. Die Puppen haben verschiedene Hautfarben, so kann sich jedes Kind damit identifizieren. Die Bilderbücher sind divers, tragen Titel wie „Der Junge im Rock“ oder „Ayshes Mama trägt ein Kopftuch“ und drehen sich um Themen wie gleichgeschlechtliche Elternpaare. An der Ausgangstüre ist „Bis bald“ in allen vertretenen Sprachen zu lesen.

Puppen gibt es in verschiedenen Hautfarben.

Zwei Drittel der Familien von Armut bedroht

Die Kita steht sinnbildlich für den Stadtteil Dudweiler, der zu den sozial schwächeren Saarbrückens zählt. Viele der Familien, darunter einige Geflüchtete, sind von Armut bedroht. „Zwei Drittel der Familien bekommen den Kitabeitrag bezahlt“, schildert Ganz-Martin die schwierige Situation. Für manche gelte der Slogan „Essen oder heizen“. „Das alles belastet natürlich auch die Kinder“, erzählt Ganz-Martin. Sie selbst hat es im Februar dieses Jahres als Leiterin zurück in ihre „Heimat-Kita“ gezogen, nach eineinhalb Jahren im eher ländlichen Niederlinxweiler. „Ich bin in Dudweiler geboren und war als Kind selbst in dieser Kita.“ Ihre Identifikation mit dem Ort, den Vereinen und Familien sei entsprechend hoch. „Ich brenne für die Arbeit hier und sehe es als meine Berufung an, die Familien bei ihren Herausforderungen zu begleiten.“ Die Kita-Leiterin legt deshalb großen Wert darauf, mit ihrem Team die Bedarfe der Eltern im Blick zu haben. „Wir orientieren uns stark daran, was die Kinder und Familien brauchen.“

Den klassischen Elternabend gibt es nicht

Das fängt bei Kleinigkeiten an. So könnten sich nicht alle Familien neue Hausschuhe oder Matschhosen für ihr Kind leisten. „Deshalb ist es bei uns völlig normal, in Socken herumzurennen. Und wir haben immer Ersatzhosen parat“, sagt Ganz-Martin. Außerdem wurden altbekannte Pfade verlassen. Statt Elternabenden gibt es unter anderem Treffen im Park mit Bewegung, Tänzen und Speisen verschiedener Länder. Das schaffe ein tolles Miteinander. Oder es gibt ein Elterncafé samt Sozialberatung. „Oft sind die Hürden hoch, zur Beratung zu gehen. Also holen wir die Beratung her.“ Elternbriefe wurden schon lange abgeschafft, weil nicht alle Eltern deutsch sprechen oder Legastheniker sind. „Die Informationen überbringen die Kinder, teils mit den Erzieherinnen und Erziehern. Das überwindet Sprachbarrieren.“ Mit einer simplen Methode gelingt das auch an anderer Stelle: Um den Eltern die Entwicklung ihrer Kinder zu verdeutlichen, werden Videos gedreht. „Sie sehen dann, wie sich ihr Kind verhält, was es kann und wo wir es noch unterstützen können.“

Bei den Buntstiften findet jedes Kind seinen Hautton.

„Jedes Kind hat eine Goldmine“

Die Verschiedenheit in der Entwicklung sei ebenfalls Diversität. „Jedes Kind hat eine Goldmine, die es auszugraben gilt“, sagt Ganz-Martin. Diese Ressourcen gelte es zu fördern und zu stärken – etwa durch Teilhabe und Mitbestimmung. Ein Beispiel: Kürzlich habe ein Junge gesagt, er wolle ein Ei machen. Als klar war, dass er eines basteln wolle, sei er in die „Werkstatt“, einer der Funktionsräume der Kita, gegangen. Als er das Ei später im großen Kreis präsentierte, wollten fast alle Kinder es ihm nachmachen. „Das war ein tolles Erlebnis. Er hatte eine Idee, durfte sie umsetzen und hat positives Feedback erhalten.“

Mitarbeitende werden regelmäßig geschult

Die Mitarbeitenden sind für die Kinder und ihre Familien ein wichtiger Anker. „Unsere Arbeit geht weit über die Kinderbetreuung hinaus, wir sind auch eine Art Sozialberatung“, betont Ganz-Martin. All das sei eine große Herausforderung für das Personal. Zumal derzeit nur zwölf der 14 Stellen besetzt sind. Stichwort: Fachkräftemangel. Um den Herausforderungen gerecht werden zu können, setzt Ganz- Martin auf regelmäßige Teammeetings und Fortbildungen zum Umgang mit Diversität. Neue Mitarbeitende erhalten eine Führung durch den Stadtteil, damit sie ein Gefühl für die Lebenssituation der Familien bekommen. „Es geht darum, ein Miteinander zu schaffen. Passend zu unserem evangelischen Leitbild: ,Menschen verschiedenster Herkunft, Kulturen, Religionen, Lebenswelten und Lebensformen machen sich gemeinsam auf den Weg, um in wertschätzendem und respektvollem Miteinander zu lernen und sich weiterzuentwickeln.‘“ Apropos Kirche: Zweimal pro Woche gehen die Kinder mit dem Pfarrer der örtlichen Gemeinde in die Kirche, die nur einen Steinwurf entfernt ist. „Dort wird gesungen, oder wir schauen uns die schönen Fenster an“, so Ganz-Martin. Auch Feste wie Ostern werden in der Kirche gefeiert, ebenso wie die Abschiedsgottesdienste für die Kinder, die in die Schule kommen. „Alles natürlich immer in Rücksprache mit den Eltern, die eine andere Religion haben.“

Diversität ist für Kita-Leiterin Sabine Ganz-Martin ein Herzensthema.

Fachfrau für Diversität

Die Kita-Leiterin ist eine Fachfrau für Diversität. Erst im vergangenen Jahr hat sie berufsbegleitend ein Studium der „Pädagogik der frühen Kindheit“ in Koblenz abgeschlossen. Thema ihrer Bachelorarbeit: Diversität in Kitas. Große Unterstützung erhält sie von ihrem Team – und von Stephanie Weber. Die Sozialpädagogin war 27 Jahre Leiterin der Kita Oberlinhaus, rund 25 Jahre davon begleitet von Ganz-Martin als ihre Stellvertreterin. Seit einem Jahr arbeitet sie als Koordinatorin im Projekt „Kita mit besonderen Herausforderungen“, das mit den Mitteln des „Gute-KiTa-Gesetzes“ finanziert wird. Sie unterstützt 24 Kitas in sozial schwachen Gegenden, schult Kita-Mitarbeitende in den Themen Vielfalt und vorurteilsbewusstes Handeln. Und sie hat gemeinsam mit Ganz-Martin studiert. Ihr Bachelorarbeit-Thema: „Vorurteilsbewusste Erziehungs- und Bildungspartnerschaft“.

Selbstreflexion entscheidend für Umgang mit Diversität

Weber weiß, worauf es beim Thema Diversität ankommt: „Es geht vor allem um Selbstreflexion, ein kritisches Hinterfragen der eigenen Vorurteile und Routinen.“ Dabei spiele die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie eine entscheidende Rolle. „Wichtig ist es, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass ich anders sozialisiert und erzogen bin als mein Gegenüber. Wenn das gelingt, können bisher unentdeckte Ressourcen erkannt werden.“ Es gelte zudem, eine Offenheit zu entwickeln, was kulturelle Unterschiede angehe. Bis dahin, sich aktiv gegen Ausgrenzung und Diskriminierung zu stellen. „Wir müssen den Menschen signalisieren: Ich möchte euch verstehen und bin da.“ Ohnehin stecke hinter jedem Verhalten eine Botschaft. „Es geht darum, die Fachkräfte zu sensibilisieren, diese Zeichen deuten zu können“, so Weber. Und ein Verständnis dafür zu entwickeln, warum gewisse Dinge so oder so gehandhabt werden. Ein gutes Beispiel ist laut Ganz-Martin die Pünktlichkeit. „Es bringt nichts, immer darauf rumzureiten. Nicht in allen Familien spielt das eine so große Rolle.“ Das bedeute jedoch nicht, alles zu akzeptieren. Vielmehr gehe es darum, „aufeinander zuzugehen, auch zu erklären, warum Pünktlichkeit an der einen oder anderen Stelle wichtig ist“.

An der Ausgangstür ist „Bis bald“ in allen vertretenen Sprachen zu lesen.

Ohne Diversität geht es nicht mehr

Die Kita Oberlinhaus hat sich schon früh auf den Weg Richtung Diversität gemacht. „Als ich hier vor mehr als 25 Jahren Kita-Leiterin wurde, habe ich gedacht, wir brauchen eine stärkere Kultur der Offenheit“, blickt Weber zurück. Bis erste Früchte geerntet werden konnten, habe es zehn Jahre gedauert. „Diversität muss man sich hart erarbeiten.“ Es habe sich aber gelohnt. Und Weber ist sich sicher: Ohne Diversität geht es nicht mehr. „Unsere Gesellschaft wird immer bunter, Inklusion ist in aller Munde. Kitas gehören zu den ersten Institutionen, in denen Kinder diesen Dingen begegnen.“ Deshalb rät sie allen Fachkräften, sich des Themas anzunehmen – und auch den Mut zu haben, sich Unterstützung zu holen. „Es gibt gute Fortbildungen zum Thema, viele gute Methoden, Teams heranzuführen. Man muss kein Experte sein“, fügt Ganz-Martin hinzu. Wichtig sei es, sich auf das Thema einzulassen.

„Diversität hat viel mit Demokratiebildung zu tun“

Dann, da sind sich die beiden Frauen einig, bietet Diversität große Chancen. Denn: „Diversität hat am Ende auch viel mit Demokratiebildung zu tun“, erklärt Ganz-Martin. Werde den Kindern schon früh gezeigt, wie vielfältig unsere Welt ist, fordere das Werte wie Respekt, Offenheit und Toleranz. Diese begleiteten die Kinder ein Leben lang. „Dann sind verschiedene Religionen, Kulturen, Sprachen und unterschiedliche sexuelle Orientierungen etwas ganz Alltägliches.“ All das lege zudem die Grundsteine dafür, dass viele Konflikte in unserer Gesellschaft erst gar nicht entstehen. „Deshalb werden wir uns weiterhin mit voller Kraft für Diversität einsetzen“, betont Ganz-Martin.

Info: Ausgabe #18 des Elternmagazins Zehn14

Die Geschichte „Wir leben Vielfalt in der Kita“ ist Teil der kürzlich erschienenen 18. Ausgabe des Evangelischen Elternmagazins Zehn14. Das Magazin bietet Wissens- und Lesenswertes zu Erziehungsfragen und Glaubensthemen. Neben der Titelgeschichte gibt es Beträge mit Tipps, wie mit Kindern über Krieg gesprochen werden kann, welche Bibel die richtige für welches Alter ist, wie Spielzeuge zum Spion im Kinderzimmer werden und was ein Experte zum Thema Süßigkeiten an der Kasse sagt. Zehn14 ist ein Gemeinschaftsprojekt des Evangelischen Presseverbands für Westfalen und Lippe e.V. und der Evangelischen Kirche im Rheinland. Es erscheint zweimal im Jahr und kann von Kitas und Kita-Trägern zur Weitergabe an Eltern sowie von Privathaushalten abonniert werden. Infos zum Magazin sowie zur Bestellung gibt es unter www.zehn14.de.

  • 30.5.2022
  • Andreas Attinger
  • Oliver Dietze