Über den Kirchturm hinaus

Die Evangelische Kirchengemeinde Drevenack hat bei den Presbyteriumswahlen im März die höchste Wahlbeteiligung in der rheinischen Kirche erzielt. Warum ist das so? Eine dörfliche Spurensuche im Kirchenkreis Wesel.

In Drevenack ist man der Zeit voraus. Im Altarraum der Dorfkirche werden schon Weihnachtsglocken zum Kauf angeboten. Nicht etwa, weil die Evangelische Gemeinde es nicht abwarten könnte. Der Baumschmuck ist Teil einer bis Ende Oktober verlängerten Glockenausstellung, die das diesjährige Glockenjubiläum begleitet. Denn der Klang der großen Glocke ist dem beschaulichen Ortsteil der Gemeinde Hünxe im Kreis Wesel schon seit 500 Jahren vertraut.

Die zwei unterlegenen Kandidaten werden anderweitig eingebunden

Offenbar nicht das Einzige, was Kirche und Dorf verbindet. An diesem Sonntagmorgen im August wird das neue Presbyterium mit einem Gottesdienst eingeführt. Telefonisch ist das coronabedingt zwar schon nach der Wahl im März erfolgt, aber jetzt soll ein würdigerer Rahmen die wichtige Aufgabe der Gemeindeleitung bekräftigen. Auch der rheinische Präses Manfred Rekowski ist gekommen. Denn das Presbyterium der Evangelischen Kirchengemeinde Drevenack, die Teile von drei Kommunen verbindet, kann sich über einen besonderen Rückhalt freuen: Die Wahlbeteiligung von annähernd 40 Prozent war der Spitzenwert innerhalb der gesamten rheinischen Kirche. Überhaupt scheint die Region wahlfreudig zu sein: Auch der Kirchenkreis Wesel lag mit einem Durchschnitt von immerhin noch 26,6 Prozent innerhalb der 37 rheinischen Kirchenkreise ganz vorne.

Als die 2057 Wahlberechtigten der rund 2300 Gemeindeglieder umfassenden Kirchengemeinde Drevenack im März zur Wahl aufgerufen waren, hatten sie tatsächlich eine Auswahl. Für die zwölf zu vergebenen Presbyteriumsplätze traten 14 Kandidatinnen und Kandidaten an. Selbst die beiden, die es nicht schafften, erhielten am Ende mehr als 280 Stimmen – und damit ein Ergebnis, das nicht nur kein schlechtes Gefühl hinterließ, sondern andernorts locker für einen Spitzenplatz gereicht hätte. „Und wir sind froh, dass uns die beiden Kandidaten nicht verloren gegangen sind und wir schon Ideen haben, wie wir sie an anderer Stelle einbinden können“, sagt Pfarrerin Anke Bender im Gottesdienst. Auch ihre Predigt ist von dem Gedanken geprägt, wie in der Gesellschaft, in der Gemeinde, im Presbyterium aus einem Gegeneinander ein Miteinander werden kann.

Einmütigkeit ist etwas anderes als Einstimmigkeit

Ein Gedanke, den Präses Rekowski in seinem Grußwort aufgreift. „Entscheidungen von oben, die soll es bei uns nicht geben. Unsere Gemeinden werden nicht mit Basta-Urteilen geleitet. Und ,die da oben‘, die kann man in der evangelischen Kirche weder anflehen noch beschimpfen. Denn es gibt sie einfach nicht.“ Leitung werde stets kollegial wahrgenommen. „Auch der Präses hat in der 15-köpfigen Kirchenleitung nur eine Stimme.“ Dabei sei das Bestreben um einmütige Entscheidungen nicht mit Einstimmigkeit zu verwechseln. „In unseren Leitungsgremien sollen wir so miteinander umgehen, dass die andere Meinung, der andere Standpunkt gehört und, wenn immer möglich, aufgegriffen wird.“

Gleichermaßen spürbare Wertschätzung für Haupt-, Neben- und Ehrenamt, das scheint einer der Schlüssel für den Zusammen- und Rückhalt in Drevenack zu sein. Ein anderer: Briefwahlunterlagen für die Presbyteriumswahl werden schon seit drei Wahlen nicht erst auf Antrag, sondern von vornherein zugestellt. „Das hat die Wahlbeteiligung sofort um zehn Prozent erhöht“, sagt Pfarrer Helmut Joppien. Eine Erfahrung, die für das gesamte Rheinland gelte, so Präses Rekowski. Besonderheit in Drevenack: Um die Kosten gering zu halten, wurden die Unterlagen von den Gemeindebriefzustellern ehrenamtlich verteilt.

Kirchengemeinde baut immer wieder Brücken zum Vereinsleben

Aber es gibt weitere Erklärungsansätze für die hohe Wahlbeteiligung. Die Kirchengemeinde legt viel Wert darauf, im Dorfleben verankert zu sein. „Wir bemühen uns sehr, Brücken zu den Vereinen zu bauen“, sagt Pfarrerin Bender. Im Umkehrschluss bedeutet das: Kandidiert ein Mitglied des Schützenvereins, aus einem der vielen Chöre oder aus dem Sportverein für das Presbyterium, fühlen sich gleich alle Vereinsmitglieder aufgerufen, sich an der Wahl zu beteiligen. Ähnlich funktioniert es mit den Ortsteilen. Die Kirchengemeinde gehört dazu, weil sie über den Kirchturm hinausdenkt, und profitiert wiederum davon. Als 2014 zwei neue Kirchenfenster angeschafft wurden, kamen mehr als 40.000 Euro an Spenden zusammen.

So funktioniert das auch mit dem Netzwerk 50+. Vor sechs Jahren wurde es von der Kirchengemeinde initiiert, die Betreuung liegt in den Händen von Annette Ulland, Presbyterin und Jugendleiterin der Gemeinde. Das soziale Netzwerk soll Herzenswünsche der Menschen über 50 erfüllen, „alles freiwillig, alles kostenlos, alles konfessionslos“. 19 Gruppen gibt es inzwischen – von Boule über einen PC-Kurs bis zur Sütterlin-Schrift und einer Tanzgruppe. „Jetzt in der Coronakrise haben wir gesehen, wie wichtig dieses Netzwerk ist“, sagt Ulland. 135 Netzwerkende sind dadurch verbunden und viele haben auch erst deswegen einen Zugang gefunden, weil das Angebot nicht unter der Kirchenüberschrift geführt wird.

Rückhalt der Gemeinde für schwere Entscheidungen wichtig

Heile Welt also in Drevenack? Natürlich nicht. Die hohe Wahlbeteiligung sei auch deswegen von großer Bedeutung, sagt Pfarrerin Bender, „weil die Zeiten nicht einfacher werden. Es ist wichtig, dass die Gemeinde hinter uns steht, wenn wir schwere Entscheidungen treffen.“ Die Kirchengemeinde zählt zu den letzten, die das Neue Kirchliche Finanzwesen eingeführt haben; wenn die Zahlen für die vergangenen drei Jahre vorliegen und zudem die finanziellen Auswirkungen der Coronakrise sichtbarer sind, werden Einschnitte unumgänglich sein. „Aber wir wollen die Umstrukturierung nicht nur als Verlust begreifen“, sagt Bender. „Wir werden uns von vertrauten Dingen verabschieden, aber auch neue Sachen entdecken.“ Und dabei, das scheint sicher, weiter eine wichtige Rolle im Dorfleben spielen.

 

  • 25.8.2020
  • Ekkehard Rüger
  • Ekkehard Rüger