Liebesmetamorphose – Ein Griesgram kocht Grießbrei

Zu den schönen Dingen des Herbstes gehört das Lesen. Draußen regnet‘s, windet‘s, stürmt‘s. Drinnen liegt ein gutes Buch auf dem Sofa neben Decke, Obst und einer Tasse Tee. Ein persönliches Kriterium für die Qualität eines Buches ist dabei, wie lange ich in der Nacht daran weiterlese und wie sehr mir die Geschichte später nachgeht. In beiderlei Hinsicht ist der neue Roman „Barbara stirbt nicht“ von Alina Bronsky ein persönlicher Tipp von mir. Er handelt von einer Liebesmetamorphose: der Verwandlung eines alten, griesgrämigen Mannes namens Walter Schmidt aus Fürsorge für seine kranke Frau Barbara. Seine persönliche Entwicklung spiegelt sich dabei kulinarisch in seinen Kochkünsten.

Walter ist das Paradebeispiel eines spießigen, alten, fremdfeindlichen Mannes – inklusive deutschem Schäferhund („Helmut“) und allen Vorurteilen, die dazugehören. Eines Morgens findet er seine Frau gestürzt auf dem Fußboden des Bades. Schnell wird deutlich, dass Barbara an einer nicht genannten, unheilbaren Krankheit leidet, wahrscheinlich Krebs. Nur Walter will dies nicht wahrhaben: „Barbara stirbt nicht.“ Und er, der von Haushaltsdingen keinerlei Ahnung hat, beginnt nun für sie zu kochen. Zunächst mit großer Mühe Kaffee, dann Kartoffeln. Mit Hilfe eines polnischen TV-Kochs, des Internets und einer Bäckerei-Verkäuferin steigert er später immer weiter seine Kochkünste. Am Ende kocht er für sie, die Russlanddeutsche, sogar den von ihm verhassten Borschtsch. „Nun war alles anders. Er musste jetzt Barbara sein. Für sich selbst und für Barbara“.

 

Die Kinder passen so gar nicht in Walters Weltbild: Die Tochter in Berlin ist lesbisch, der Sohn trennt sich gerade von einer Person of Colour, deren Name er sich nicht merken kann oder will. Auch wenn das Setting zuweilen etwas konstruiert wirken mag, Bronskys Dialoge verleihen der Geschichte eine tiefe, warme Menschlichkeit, weil das Wesentliche immer ungesagt bleibt. Sie schreibt auf eine liebes-intelligente Weise „zwischen den Zeilen“ und eröffnet so einen anderen Blick auf seine, Walters, Sicht der Dinge. Barbaras Dialogbeiträge beschränken sich, krankheitsgeschwächt, meist auf „Ach, Walter“. Doch auch damit wird oft viel mehr gesagt. Walter lernt in der Zeit ihrer Krankheit neben dem Kochen zugleich, die Schönheit seiner Frau neu wahrzunehmen. Und wie beliebt sie ist. Für ihn, den Eigenbrötler, ist es eine Zumutung, von wie vielen Menschen er auf ihre Gesundheit angesprochen wird. Und auch, dass er selbst mit seiner kulinarischen Fürsorge plötzlich einige Berühmtheit erlangt.

 

Liebesmetamorphosen. Manchmal braucht es besondere Umstände, um Eigenschaften in einem Menschen zu wecken, von denen vorher niemand etwas geahnt hat. Liebesfähigkeiten, die etwa in langjährigen Beziehungen oft auf die Partnerin oder den Partner delegiert worden sind: „Er musste jetzt Barbara sein.“

Die Bibel handelt an vielen Stellen von solchen Liebesmetamorphosen. Theologisch spricht man dann oft von Umkehr, Buße, Sinneswandel – was aber das Geschehen weniger genau trifft:

  • Wenn der Zöllner Zachäus sein Hab und Gut teilt und allen Wucher zurückzahlt, nachdem Jesus bei ihm als Gast eingekehrt ist (Lk 19,1-10).
  • Wenn der jüngere Sohn wieder nach Hause zurückkehrt und der Vater vor lauter Glück ein gemästetes Kalb schlachten lässt (Lk 15,11-32).
  • Wenn der blinde Bartimäus sehend wird und sogleich Jesus nachfolgt (Mk 10,46-52).

Liebesmetamorphosen. Menschen widerfährt eine Liebe, die in ihnen eine neue Liebesfähigkeit weckt. Sie bricht alte Rollenmuster heilsam auf. Und sie verändert so auch das soziale Umfeld. „Heute ist diesem Haus Heil widerfahren.“

Das ist ein zentraler Gedanke evangelischen Glaubens: Gottes Liebe gilt nicht einfach den Liebenswerten, Guten, Gerechten, sondern sie macht als schöpferische Liebe ihr Gegenüber liebenswert, gut und gerecht. Das meint die biblische Rede von der „Rechtfertigung des Gottlosen“: „Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren.“ (Röm 5,8) Gottes Liebe macht uns liebenswert und liebesfähig, indem wir selbst zu einem Teil seiner Liebe werden.

 

„Er musste jetzt Barbara sein.“ Und Walter ist es: nicht nur für Barbara und sich, sondern im weiteren Verlauf auch für immer mehr andere. Auch hier wächst er in ihre sozialen Aufgaben hinein. Er hilft seinem Enkel, versorgt einen Obdachlosen, backt einen Kuchen. Dabei behält er seine herrlich griesgrämige, politisch inkorrekte Art bei – zum Glück, sonst wäre es auch langweilig gewesen. Auch als Barbara bleibt er Walter. Bis hin zu dem besonderen Weihnachten am Schluss, das hier nicht verraten sei. Lesen Sie einfach selbst. Auch das Lesen liebes-intelligenter Geschichten kann liebevoll verwandeln.

 


Theologische Impulse (107) von Dr. Thorsten Latzel, Präses

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  • 6.11.2021