Corona-Pandemie: Wo ist Gott?

Oberkirchenrätin Barbara Rudolph
Oberkirchenrätin Barbara Rudolph

Pandemien kannte ich bisher eigentlich nur, wenn sie sehr weit weg sind, Ebola z. B. in Afrika, oder sehr lange her sind, wie die Pest im Mittelalter. Jetzt ist mir mit Corona eine Seuche nahe gerückt, hat in Tagen und Wochen die ganze Erde überrollt und hält sie über Monate oder Jahre im Würgegriff.

„Krass“, sagt ein junger Verwandter, „Das ist wie in einem Science Fiction.“ Die polnische Freundin, die sich erstaunlich gut in der Bibel auskennt, sagt es etwas anders: „Das ist die Apokalypse. Jetzt passieren die Katastrophen, wie sie im letzten Buch der Bibel vorhergesagt sind.“ Mein Neffe dagegen findet, die Pandemie sei eine heilsame Unterbrechung: „Das Virus stoppt die Hektik, tut der Umwelt gut und fördert die Nachbarschaftshilfe. Was kann uns eigentlich Besseres passieren?“ Meine Mitbewohnerin dagegen als frisch gelernte Hotelfachfrau ist in Kurzarbeit. Sie fürchtet um ihren Arbeitsplatz. Im Freundeskreis mutieren wir zu stümperhaften Virologen und diskutieren hitzig über richtige und falsche Strategien.

Da regt sich die Theologin in mir. Ich bin keine Virologin und auch keine Wirtschaftsexpertin. Ich weiß zu wenig von der Ausbreitung von Krankheiten und .der Risikoabwägung. Aber mich bewegt die Frage: Wo ist Gott in all diesen Ereignissen? In den Debatten der Talkshows kommt er selten vor. In den Verlautbarungen der Kirche stehen zunächst, der Not geschuldet, praktische Hinweise und Hilfestellungen im Vordergrund. Aber still und leise und nun auch laut meldet sich die alte Frage nach Gott im Leid zu Wort: Wo ist Gott in all dem Unverständlichen und Bösen?

Vielleicht sind meine ökumenischen Partner im globalen Süden geübter, diese Fragen auszuhalten. Sie müssen viel öfter als ich lebensbedrohende Situationen standhalten. Sie spüren oft intensiver als ich die Verletzlichkeit und Gefährdung des Lebens. Mit ihnen lerne ich die Bibel neu zu lesen, aus der Perspektive der Bedrängten, Verstörten, Fragenden.

Mit ihnen gemeinsam stoße ich auf die Psalmen: „Wie lange noch verbirgst du dein Angesicht? Wie lange noch soll ich mich täglich ängsten in meinem Herzen?“ (Psalm 13). Ich entdecke in der Bibel, dass die Menschen mit dem Fragen nicht aufhören und sich mit billigen einfachen Antworten nicht zufrieden geben.

Mit denen, die um ihre wirtschaftliche Existenz fürchten, klagt der Psalm: „Der Feind verfolgt mich und ergreift mich, und tritt mein Leben zu Boden. Steh auf, Herr, und erhebe dich!“ (Psalm 7) Und denen, die allein im Krankenhaus und Altersheim waren oder noch sind, gibt der Psalm 22 Worte: „Warum, mein Gott, hast Du mich verlassen?“

Im Neuen Testament höre ich diese Worte wieder, aus dem Munde Jesu am Kreuz (Markus 15, 34) – seine letzten Worte, bevor er stirbt. Wenn der römische Hauptmann unter dem Kreuz direkt nach Jesu Tod sagt: „Dieser Mensch ist Gottes Sohn.“, dann führt er mich auf die Spur, wo Gott in dem Leiden zu finden ist. Gott leidet mit uns, klagt mit Verzweifelten, stöhnt mit den Sterbenden, gibt den Menschen eine Stimme, seine Stimme. Das entdecke ich nicht nur bei dem sterbenden Jesus, sondern auch, wie er zuvor gelebt hat. Es hat ihn immer hingezogen zu den Kranken, zu den Trauernden, zu denen, deren Leben durcheinander geraten ist.

Martin Luther hat deshalb geraten: „Wenn du Gott suchst, dann schau nicht nach oben in den Himmel. Dann schau nach unten auf den Boden, wo der Bettler hockt und alle anderen, die am Boden zerstört sind. Dort findest du Gott“

Deshalb hat Luther auch von der „Theologia Crucis“, der Theologie des Kreuzes, gesprochen. gegen den Trend seiner Zeit. Nur seiner Zeit? Die klassischen Gottesbilder vom „lieben Gott“, „vom allmächtigen Gott, der alles so herrlich regieret“ zerbrechen, werden durchkreuzt. Und damit auch die klassischen Bilder vom Menschen, der (fast) alles beherrscht und für (fast) alles eine Lösung hat. Das ist die Erschütterung, die gerade uns Menschen in Europa erfasst hat.

Wie zerbrechlich und gefährdet wir Menschen sind, lernen wir an diesem unsichtbaren Virus. Am zerbrechlichen Christus lernen wir, wie wir angesichts dessen leben können. Mit ihm an der Seite lassen sich Menschen die Frage nach Gottes Beistand nicht verbieten. Menschen, die fragen: „Wie lange noch?“ gehen davon aus, dass es ein Ende geben wird, ein gutes Ende. Und wenn es noch nicht gut ist, dann ist es noch nicht das Ende. Gottes Weg mit den Menschen hört deshalb nicht beim Schrei am Kreuz auf sondern geht weiter mit dem Gruß: „Friede sei mit euch. Ich lebe und ihr sollt auch leben.“

Und voller Staunen haben wir in den letzten Wochen auch das entdeckt, wie Menschen fürsorglich und behutsam miteinander umgehen, wie die Menschen den zerbrechlichen Menschen in sich selbst und anderen entdeckt und sich gegenseitig unterstützt haben. Wie Gottes Liebe sich Raum schafft in Menschen- und Nächstenliebe. So schenkt uns Gott Leben angesichts des Todes.

Wo ist Gott? Ich finde Gott in den vielen lebendigen Gesten menschlicher Zuwendung. Und ich finde Gott bei den Fragen der Menschen, die sich nicht abfinden können, weil eben noch nicht alles gut ist. Ich finde Gott – nicht ein für alle Mal, aber für diesen Moment.

Dietrich Bonhoeffer weist mir den Weg: „Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern auf ihn verlassen.“ Tastend frage ich weiter – und gebe nicht auf.

 

Barbara Rudolph, hauptamtliches Mitglied der Kirchenleitung, ist Leiterin der Abteilung 1 – Theologie und Ökumene – im Landeskirchenamt. Die Theologin (geboren 1958) war von 1986 bis 2001 Gemeindepfarrerin in Moers-Meerbeck. Vor ihrer Wahl zur Oberkirchenrätin war sie Geschäftsführerin der Ökumenischen Centrale der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK).

  • 17.6.2020