„Zeit verrücken“ in verrückten Zeiten

Als Kirche und Christ-/innen haben wir eine „ver-rückte“ Zeitrechnung: Der Tag beginnt um 18 Uhr, die Woche mit dem Sonntag und das Jahr mit dem Advent. Das geht zurück auf eine lange Geschichte, die etwa beim Tagesbeginn im Judentum gründet. Es hat zugleich eine große Bedeutung für den Glauben: In der Art die Zeit zu berechnen drückt sich auch aus, wie wir uns selbst verstehen. Dieses „Verrücken der Zeit“ kann unseren Blick heilsam verändern – gerade in einer Zeit, die viele Menschen als verrückt erfahren.

Der Tag beginnt mit dem Abend und die Woche mit der Ruhe: Das ist ein heilsamer Akzent gegen Tendenzen zu Dauer-Aktionismus und Selbsterschöpfung. Kein Mensch, niemand kann dauernd arbeiten oder auch nur erreichbar bzw. online sein. Das Gerede von „24/7“ ist Mumpitz, ein gesundheitsgefährdender Irrsinn. Gerade in der Pandemie mit dem verstärkten Arbeiten und Lernen von zu Hause aus drohen heilsame Rhythmen und Grenzen zu zerfließen. Auch unsere permanente digitale Erreichbarkeit an jedem Ort zu jeder Zeit trägt dazu bei: „Ich schau‘ nur mal kurz nach, ob es wichtig ist.“ „Du hast drei neue Nachrichten“: Die kleinen roten Zahlen sind eigens so gemacht, mich zu konditionieren.

Aus Sicht des Glaubens ist der Wechsel von Beten und Arbeiten, Tun und Lassen grundlegend. Und am Anfang steht bewusst das Loslassen, Empfangen, Ruhen: Der Tag beginnt mit dem Abend und die Woche mit dem Sonntag. Unser Leben ist uns gegeben, geschenkt, bevor wir irgendetwas dafür tun. Das hilft, anders in den Tag, in die Woche zu gehen. Mit dem Mystiker Meister Eckhart gesprochen: „Man muss gelassen haben, um gelassen zu sein.“

Das Jahr beginnt mit dem Advent. Wenn die Zeit am dunkelsten ist, feiern wir das Kommen des Lichts, bereiten uns auf Christus vor. Ein Kontrapunkt zur Welt um uns herum. Glaube wie Hoffnung haben so immer etwas Widerspenstiges. Sie lassen sich nicht von außen bestimmen, finden sich nicht damit ab, dass die Welt eben so ist, wie sie ist. Sie bieten vielmehr eine heilsam andere Sicht: „Es knospt unter den Zweigen. Das nennen sie Herbst.“ (Hilde Domin)

Das Jahr beginnt christlich mit dem Advent und so mit einer Zeit innerer Einkehr und Umkehr: Worauf kommt es mir im Leben an? Wofür setze ich mich, meine Zeit, mein Geld ein? Der „Black Friday“ ist eine kommerzielle Perversion dessen: „Du bist, was du hast.“ Die Selbstveräußerung des Menschen zum Konsumenten. Gerade die Pandemie bietet – als Gutes im Schlechten – die Chance, manche gewohnten Lebensweisen in Frage zu stellen. Mein Leben ist verletzlicher, als ich lange Zeit dachte. Ich brauche die Begegnung mit Menschen nötiger als meinen Besitz. Und es sind oft kleine Zeichen, die reichen, um mir Mut zu geben und anderen Mut zu machen. Im Advent beginnen wir das Jahr mit dem Einüben der Menschenfreundlichkeit Gottes.

 


Theologische Impulse (109) von Dr. Thorsten Latzel, Präses

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  • 4.12.2021