„If you stutter, you’re in good company“ – Inklusive Kirche gestalten

„Inklusive Kirche“ – das ist eine Tautologie, ein „weißer Schimmel“. Geht man vom Pfingstwunder als Ursprungsmythos der Kirche aus, kann Kirche gar nicht anders als inklusiv sein. Parther, Meder, Elamiter, … verstehen einander auf einmal. (Apg 2,9) Arme und Reiche teilen im urchristlichen Sozialismus ihre Güter. (Apg 2,44f.) „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau, denn ihr seid allesamt einer in Christus.“ (Gal 3,28) Das Attribut „inklusiv“ fügt insofern nichts Neues zu Kirche hinzu.

Dennoch ist es eine notwendige Tautologie. Pointiert formuliert: Wir müssen solange von „inklusiver Kirche“ sprechen, bis Inklusion in der Kirche kein Thema mehr ist. Wir müssen diese konstitutive Eigenschaft betonen, weil die Gestalt von Kirche immer wieder hinter ihrem Wesen zurückbleibt, weil wir selbst allzu oft die Botschaft verstellen, mitunter auch entstellen. Im Blick auf Menschen mit Behinderung haben wir gesellschaftlich wie kirchlich wohl eines der größten Inklusionsprobleme. Der Umgang mit Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung ist gleichsam der Lackmus-Test für die Frage von Inklusion insgesamt.

Seit der UN-Behindertenrechtskonvention (verabschiedet 2006, in Kraft getreten 2008) hat sich hier viel getan, auch in der Kirche. Entscheidend ist der Schritt von einer primär medizinischen Betrachtung (Behinderung als „Krankheit“) hin zu einer menschenrechtlichen Sicht (Recht auf gleichberechtigte Teilhabe). „Behinderungen“ erfolgen – diesem Ansatz folgend – gerade durch Umwelt und Strukturen: Die Konstruktion dieser Treppe behindert diesen Menschen, der Mensch ist es nicht an sich. Es gab vielfältige Disability Studies. 2015 erschien etwa die Schrift der EKD „Es ist normal, verschieden zu sein. Inklusion leben in Kirche und Gesellschaft“. Ein Schlüsselsatz daraus: „Inklusion ist nicht ein weiteres Thema, das sich auf die ohnehin schon volle Agenda drängt. Es geht um das Kirche-Sein der Kirche, es geht um eine Gesellschaft, die Partnerschaft und Gemeinschaft auf Augenhöhe verwirklicht.“

Auch wenn Barrierefreiheit im Hier und Jetzt nie völlig umzusetzen ist, bleibt sie Zielpunkt, um kirchliche wie gesellschaftliche Wirklichkeiten inklusiver zu gestalten.

Im Folgenden möchte ich zunächst darüber nachdenken, was Inklusion mit unserem Schriftverständnis zu tun hat. Danach werde ich näher auf Behinderung im Blick auf unseren Gottesglauben eingehen und zum Schluss ein paar persönliche Perspektiven entfalten.

1. Die Bibel als Buch von befreiten Behinderungen

Wichtig für die Frage einer inklusiven Kirche ist, wie wir unsere heiligen Schriften und damit Gott und uns selbst verstehen. Welche Rolle spielt Inklusion, speziell hinsichtlich Behinderung, dafür, wie wir die alten Geschichten verstehen und sie heute erzählen?

Nun, die Bibel lässt sich unter vielen verschiedenen Perspektiven lesen – auch als Geschichten von Behinderungen, genauer: befreiter Behinderungen. Setzt man diese Brille auf, erkennt man, wie zentral diese Thematik ist.

Adam und Eva werden als Mängelwesen beschrieben. Gott versorgt sie nach dem Fall mit Kleidern und kompensiert so unsere aller „fell-lose Nacktheit“. Abraham und Sara sind alt und unfruchtbar, als Gott ihnen kundtut, dass er sie zu einem großen Volk machen wird. Mose, die Schlüsselgestalt schlechthin von Thora, Exodus und Wüstenwanderung, hat eine schwere Zunge, möglicherweise ein Stottern. Deswegen braucht er seinen Bruder Aaron als Sprecher. Der Hinweis auf die eigenen Beschränkungen bzw. Behinderungen gehört dabei von Mose an zum festen Programm aller Berufungsgeschichten. Und auch, dass Gott diese Hinweise nie gelten lässt.

Die Propheten ihrerseits würden heute durch die Reihe als psychisch auffällig bis gestört gelten. Hochsensible Menschen mit Borderline-Symptomen oder posttraumatischen Belastungsstörungen: Jesaja lief drei Jahre barfuß, nackt und gab seinen Kindern seltsame Namen. Ezechiel aß eine Schriftrolle, schor seine Haare und vernichtete sie auf verschiedene Weisen. Jeremia zerschmetterte Tonkrüge, vergrub einen Gürtel, war selbst zeitlebens depressiv. Hosea heiratete eine Prostituierte. Alle diese psycho-sozialen Verhaltensauffälligkeiten beschreiben wir heute dezent als „prophetische Zeichenhandlung“.

Hiob als die personifizierte Gestalt des Weisen war so aussätzig, dass es selbst seinen Freunden die Sprache verschlug. Paulus hatte eine Behinderung, die er als Pfahl in Fleisch beschrieb. Der Seher Johannes lebte als Grenz-Persönlichkeit ganz in prophetischer Tradition.

Die Bibel – ein Buch, das von Menschen mit körperlichen, geistigen, psychischen Behinderungen erzählt, und davon, wie Gott und Menschen in Akten der Befreiung damit umgehen.

Diese Perspektive lässt sich auch leicht universalgeschichtlich ausweiten. Sokrates war ausnehmend hässlich. Aristoteles Epileptiker. Thomas von Aquin adipös. Bei Mozart besteht Verdacht auf Tourette-Syndrom. Frida Kahlo litt an Kinderlähmung und Spina bifida. Stephen Hawking an der degenerativen Nervenkrankheit ALS. Helen Keller war taubblind. John Nash schizophren. Jürgen Habermas kam mit einer Gaumenspalte zur Welt. Und Lady Gaga hat neben Bulimie eine Autoimmunkrankheit. Wie wäre die Geistes- und Kulturgeschichte eigentlich verlaufen, wenn man zu früheren Zeiten schon eine umfassende Pränataldiagnostik hätte durchführen können: „Herr und Frau Einstein, ich muss Ihnen leider mitteilen, Ihr Kind könnte möglicherweise behindert sein.“? Wir hätten lauter kerngesunde Schaufensterpuppen. Ohne körperliches oder psychisches Leiden wegreden zu wollen: „Behinderung“ ist der treffende Ausdruck für die Unfähigkeit einer Gesellschaft, mit der Eigenart und den Einschränkungen von Menschen umgehen zu können.

In Kindheit und Alter gehören Handicaps ohnehin flächendeckend dazu. Angesichts einer durchschnittlichen Lebenserwartung von etwa 85 Jahren ist es schon verwunderlich, dass wir ungefähr ein Drittel unseres Lebens zwischen 15 und 40 als „normal“ ansehen und den Rest als „handicap-time“.

Eine Aufgabe „inklusiver Kirche“ besteht so darin, die biblischen Narrative und theologischen Denkfiguren neu für das Verständnis von Behinderungen zu entfalten. Das verändert den Blick auf den Menschen – und auf Gott.

2. Von der Behinderung Gottes

Für uns als Christinnen und Christen hat sich Gott in Jesus Christus letztgültig geoffenbart. Nun gibt es in den Evangelien zwei zentrale Aussagen dazu, woran Jesus als Christus erkannt wird. Die eine stammt von seinen Gegnern, die andere von ihm selbst. Und beide sind für die Frage kirchlicher Inklusion und speziell den Umgang mit Behinderung wichtig.

Jesu Gegner sagen von ihm: „Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.“ Miteinander zu essen hieß damals wie heute, dem anderen an dem Segen Gottes Anteil zu geben, ihn in das eigene Haus einzulassen, tiefe persönliche Gemeinschaft zu haben. Damit durchbrach Jesus gerade die religiöse wie soziale Exklusion von Menschen, die entweder auf Grund körperlicher Eigenarten – Blinde, Lahme, Aussätzige – oder auf Grund von psychischen Eigenschaften – Besessene – ausgeschlossen waren. Jesus isst mit Menschen, die anderen als „unrein“ gelten, und stellt sie so unter den Segen Gottes. In dem gemeinsamen Mahl wird das vollzogen, was Paulus als „Rechtfertigung des Gottlosen“ beschreibt: der ultimative Akt der Inklusion. Oder wie es ein katholischer Theologe formuliert hat: „Christsein heißt, miteinander essen können.“ Das macht uns als Kirche Jesu Christi aus: In seiner Nachfolge werden wir als Kirche zu einer Gemeinschaft notorischer Grenzgänger-/innen, die andere nicht ausschließen können, weil wir selbst aus der Feindesliebe Gottes leben. Das Anstößige dieser vorbehaltlosen Inklusion haben die Gegner Jesu sehr genau verstanden.

Auch Jesus selbst verweist auf Phänomene heilsamer Inklusion, wenn es um sein Christus-Sein geht. Als er von den Jüngern Johannes‘ des Täufers gefragt wird, ob er der Christus sei oder ob man auf einen anderen warten solle, verweist er sie auf das, was sie sehen und hören: „Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt; und selig ist, wer sich nicht an mir ärgert.“ (Mt 11,5) An dieser Selbstaussage sind mehrere Dinge wichtig:

– Zunächst verweist Jesus nicht auf das, was er sagt oder tut, sondern auf das, was Menschen erfahren: das Reich Gottes als Reich der Freiheit – die Erlösung von Behinderung, Armut, Ausgrenzung.

– Sodann wird von den Lahmen nicht gesagt, dass sie nicht mehr lahm sind, sondern dass sie gehen; von den Blinden nicht, dass sie nicht mehr blind sind, sondern dass sie sehen; von den Tauben nicht, dass sie nicht mehr taub sind, sondern dass sie hören. Das mag eine feine sprachliche Differenz sein, zeichentheoretisch gesprochen der Unterschied zwischen einem kontradiktorischen und konträren Gegensatz. Sie ist aber wichtig, weil sich darin zwei verschiedene Vorstellungen von Erlösung spiegeln, die theologisch beide von Bedeutung sind.

In der einen Sicht geht es um Erlösung von der Behinderung. Der Blinde ist nicht mehr blind. Mit Offb 21,4: „… und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“ Das Ende aller Behinderung in der neuen Schöpfung Gottes. Das ist wichtig gerade angesichts tiefer Leidenserfahrungen, die viele Menschen durch ihre Behinderungen machen müssen.

Daneben gibt es eine andere Sicht, in der es um Erlösung der Behinderung geht. Die Behinderung ist gleichsam Teil der Persönlichkeit dieses konkreten, geschaffenen Menschen. Und sie ist in doppelter Bedeutung „aufgehoben“ in der neuen Schöpfung: Der Mensch wird verwandelt, befreit, erlöst – und zugleich bleibt die Behinderung bewahrt. Das zeigt sich an Christus selbst. Der Auferstandene hat Löcher in den Händen und einen offenen Schnitt an der Seite. Kein makelloser Körper, sondern ein erlöster Leib, der die Narben der Verletzung an sich trägt. Heilsame Stigmata. Das ist wichtig, auch für unsere Vorstellung von Behinderung.

Für den christlichen Glauben spielt Behinderung eine zentrale Rolle, weil in Christus Gott selbst heilsam verwundet, verletzt, behindert vorgestellt ist. Die Trinität selbst lässt sich als Prozess liebender Inklusion beschreiben. Gott exkludiert, entäußert sich seiner selbst. Gott wird in Jesus Christus Mensch, verletzt, verwundet, behindert. Und Gott holt uns und seine ganze Schöpfung durch seinen Geist zu sich ein. Als Christ-/innen glauben wir an einen heilsam verwundeten und behinderten Gott.

3. Mein geliebtes und verhasstes Stottern

Um Kirche inklusiv zu gestalten, spielt meines Erachtens die Auseinandersetzung mit der je eigenen Behinderung eine zentrale Rolle: Wo fühlen eigentlich Sie sich behindert – und zwar so, dass es Sie ausgrenzt? Für eine inklusive Kirche ist es wichtig, dass wir eben nicht nur über die Behinderung der anderen sprechen, sondern davon, wie wir selbst davon angegangen sind.

Ich persönlich habe im Blick auf alltägliche Behinderungen eine ganze Reihe anzubieten: Ich bin kurzsichtig, leicht farbenblind, höre eher schlecht und habe einen essentiellen Tremor. Letzteres wirkt als Handzittern beim Segen recht magisch, ist beim Suppe-Essen aber hinderlich. Als wirklich exkludierend habe ich aber nichts davon erfahren.

Anders ist es mit meinem Stottern gewesen. Als Jugendlicher war das intensiv. Ich habe keinem der Stereotype entsprochen, wie man stotternde Menschen in Filmen darstellt – als unsicher, schüchtern oder gar dumm. Trotzdem ist Stottern einfach höchst unangenehm. Stellen Sie sich vor: Sie wollen einen Witz erzählen und bleiben bei der Pointe hängen. Und Sie stottern gerade dann, wenn Sie es am allerwenigsten gebrauchen können. Deswegen scannen viele stotternde Menschen jeden Satz vorab im Kopf, ob irgendein kritisches Wort darin vorkommt. Sie weichen gegebenenfalls auf ein anderes aus. Oder sie vermeiden nach Möglichkeit bestimmte Sprechsituationen ganz. Ich persönlich bin offensiv damit umgegangen, hatte keine sozialen Probleme. Doch schon allein das Wort Stottern war mir zuwider.

Rückblickend war die Auseinandersetzung mit meinem Stottern für mich eine der wohl wertvollsten persönlichen Erfahrungen überhaupt. Weil ich lernen musste, mit meiner offensichtlichen Behinderung umzugehen, meinem Pfahl im Fleisch, der jedem noch so klugen Gedanken oder Vortrag einen Riss verleihen konnte. Das hat mich gezwungen, mich intensiv mit mir selbst auseinanderzusetzen. Die Aufgabe war, mein eigenes Stottern zu lieben. Es als Teil meiner eigenen Persönlichkeit anzunehmen, zu inkludieren. Paradox formuliert: Als ich es angenommen hatte, dass ich stottere, brauchte ich nicht mehr zu stottern. Oder konnte flüssig stottern, wie ich es noch heute hin und wieder tue.

Ein entscheidender Schritt ist dabei die Desensibilisierung. Stottern als so normal und selbstverständlich anzusehen wie meine Kurzsichtigkeit oder Farbenblindheit. Ist halt so. Das erlaubt mir anders damit umzugehen, es zu modifizieren. Flüssig zu stottern.

„If you stutter, you’re in good company“ lautet daher ein logopädischer Slogan. Neben Mose eben auch Aristoteles, Galileo Galilei, Newton, Darwin, Winston Churchill, George VI., Marilyn Monroe, Lewis Caroll, John Updike, Joe Biden, Bruce Willis, Ed Sheeran, Emily Blunt oder Rezo. Wäre ja schade gewesen, wenn sie alle geschwiegen hätten.

Ich glaube, dass wir „Kirche inklusiv gestalten“, indem wir kollektiv zu einer Desensibilisierung im Blick auf Behinderungen beitragen. Um dann zu Modifikationen im Umgang mit Behinderungen zu kommen, übertragen zu einem „flüssigen Stottern“. Und wir tun dies am glaubwürdigsten, wenn wir mit unseren eigenen Behinderungen selbstverständlich umgehen. Behindert zu sein ist eben genauso normal, wie braune Haare zu haben. Deswegen ist es mir wichtig, stellvertretend als leitender Geistlicher bewusst zu sagen: Ich stottere.

Im Blick auf bestimmte Frömmigkeitstraditionen muss dabei nur zugleich ergänzt werden: Damit wird nicht einer religiösen „Umwertung der Werte“ (Nietzsche) das Wort geredet. So als hätten Behinderungen nun per se einen positiven Wert. Was für ein Unsinn! Das wäre ein madenwurmiges Denken, das glaubt, Gott näher zu sein, indem man sich selbst klein macht. Gott hat kein Problem mit meiner Schönheit. Er hat sie mir schließlich geschenkt. Und eine Behinderung führt mich Gott nicht automatisch näher. Handicaps können einem die Augen öffnen. Sie müssen es aber nicht. Sie tun es dort, wo sich mir – so Gott will – in der Auseinandersetzung mit ihnen ein neues Verständnis erschließt. Und dort, wo sie helfen, dass wir einander insgesamt freier begegnen.


Theologische Impulse (106) von Dr. Thorsten Latzel, Präses

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  • 30.10.2021