„Wir können relaxter über Probleme sprechen als ihre Eltern“

Wer erwachsen wird, hat viele Hürden zu meistern. Das weiß auch Annegret Klein-Heßling, Leiterin der Evangelischen Beratungsstelle in Viersen. Mit mehr als 80 Beraterinnen und Beratern geht sie auf der Jahrestagung der evangelischen Beratungsstellen der rheinischen Kirche (3./4. November) in Mülheim an der Ruhr der Frage nach, wie die jungen Menschen dabei unterstützt werden können. Im Interview spricht sie über die Herausforderungen des Erwachsenwerdens. Ein Prozess, der den jungen Menschen nicht nur durch die Corona-Pandemie mehr abverlangt als früher.

Frau Klein-Heßling, Erwachsenwerden bedeutet auch, Verantwortung zu übernehmen. Welche Herausforderungen müssen die jungen Menschen dabei meistern?

Annegret Klein-Heßling. (Foto: Klein-Heßling)

Klein-Heßling: Sie haben häufig Orientierungsschwierigkeiten. In den Beratungsgesprächen geht es um Konflikte in der Partnerschaft oder der Familie. Diese Lebensphase ist aber auch geprägt von einem Überforderungserleben: Die Schulzeit ist vorbei, es gilt, sich beruflich zu orientieren. In diesem Zusammenhang kommt es zu Selbstwertproblemen und psychischer Belastung bis hin zu Ängsten, Panikattacken und depressiven Gefühlen. Viele fühlen sich verloren, wissen nicht, wohin ihre Reise geht. Ein wichtiger Faktor ist die notwendige Verantwortungsübernahme. Es kann nicht mehr alles auf die Eltern oder die blöden Lehrerinnen und Lehrer geschoben werden. Im Gegenteil: Die jungen Menschen spüren, dass etwas von ihnen erwartet wird – und erwarten das auch selbst von sich. An diesem Punkt stellen sie fest, dass ihnen noch das Rüstzeug fehlt, um sich in unserer komplexen Welt zurechtzufinden.

Warum ist es so schwer für sie, sich zurechtzufinden?

Klein-Heßling: Sie müssen viele wichtige Entscheidungen treffen. Dafür stehen ihnen heutzutage eine Menge Optionen zur Verfügung, etwa mit Blick auf die Berufswahl. Um solche Entscheidungen treffen zu können, muss ich aber erst einmal wissen, wer ich bin und was mich ausmacht. Das ist vielen in diesem Alter noch nicht ganz klar. Hinzu kommt, dass wir in einer hochindividualisierten Gesellschaft leben, in der medial vermittelt wird: „Es gibt jede Menge Chancen. Wenn man es nur richtig anpackt, kann man alles schaffen und viel Geld verdienen.“ Das führt bei denjenigen, die in der Identitätsfindung sind, zu großen Selbstzweifeln.

Selbstzweifel, weil der Erwartungsdruck höher ist als früher?

Klein-Heßling: Ja, auf jeden Fall. Das hat auch mit den sozialen Medien zu tun. Dort wird nicht nur viel Selbstoptimierung propagiert, sondern es werden auch Körperideale vermittelt, die wenig mit der Realität zu tun haben. Es ist wissenschaftlich belegt, dass das schwerwiegende Folgen für junge Menschen haben kann. Dasselbe gilt für Karrierewege, etwa in Bezug auf Influencer. Da strömt viel auf die jungen Menschen ein. Nicht selten kommt es dann zu Gedanken wie: „Ich bin jetzt 24 Jahre alt und müsste doch schon viel weiter sein, als ich es bin.“

Wo haben junge Erwachsene den größten Beratungsbedarf?

Klein-Heßling: Bei den jungen Frauen spielen häufig das Selbstwertgefühl und eine Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper eine Rolle. Es geht viel um Akzeptanz und äußerliche Merkmale. Das wird durch die sozialen Medien verstärkt. Den Frauen muss erklärt werden, dass diese Idealbilder häufig gefaked sind. Dass es auch anders geht, zeigen unsere Erfahrungen: Wir haben junge Frauen, die soziale Medien komplett aus ihrem Leben verbannt haben – und denen es seitdem viel besser geht. Das Äußerliche wird aber zunehmend auch bei jungen Männern ein Thema. Geschlechtsübergreifend geht es vor allem um Identitätsfindung, Selbstwirksamkeit und Selbstwert. Prägend ist dabei die Frage, wie ich Einfluss auf die Dinge um mich herum ausüben kann.

Haben sich die Problemlagen durch die Corona-Pandemie verändert?

Klein-Heßling: Ja, Ängste und Depressivität haben zugenommen. Grundsätzlich geht Identitätsfindung damit einher, Neues auszuprobieren, eigene Erfahrungen zu machen. Fallen dann pandemiebedingt die Struktur, die sozialen Beziehungen und Freizeiterlebnisse weg, wirkt sich das spürbar aus. Man muss sich vorstellen, dass es sich um eine Generation handelt, die über die Jahre vermittelt bekommen hat, das alles geht. Eine Generation, die kaum Grenzen erfahren hat, auch was das Reisen angeht. Damit müssen die jungen Menschen erst mal umgehen können.

Wie helfen Sie ihnen in den Beratungsstellen?

Klein-Heßling: Grundsätzlich können wir relaxter mit ihnen über ihre Probleme sprechen als ihre Eltern. Das ist ein Vorteil. Wir versuchen herauszuarbeiten, was sie ausmacht, wo ihre Stärken liegen, welche Werte sie haben. Damit wollen wir die Identitätsfindung unterstützen. Läuft das gut, erleben wir häufig, dass die jungen Menschen positiver auf sich selbst blicken können. Und das Tolle ist ja auch, dass sie noch ihr ganzes Leben vor sich haben. Da lässt sich einiges bewegen.

Können Sie das konkretisieren?

Klein-Heßling: Die jungen Menschen haben meist noch wenig zu betrauern. Wir sehen natürlich, dass es ihnen nicht gut geht und wo es hakt, arbeiten aber auch ihre Ressourcen heraus. Es ist ein Vergnügen, Menschen beraten zu können, die zwar schon Schlimmes erlebt haben mögen, aber andererseits bereits die nötige Reife besitzen, etwas verändern zu können. Vereinfacht gesagt führen Annahme, Akzeptanz und Bestärkung unsererseits zu einer besseren Selbstannahme und unter Berücksichtigung der eigenen Lebensgeschichte zur Erfahrung der Selbstwirksamkeit. Und die ist essenziell für die psychische Gesundheit, weil die Überzeugung wächst, Einfluss auf die eigene Entwicklung nehmen zu können.

Welche Rolle spielen bei diesem Prozess die Eltern?

Klein-Heßling: Sie können in mehrfacher Hinsicht Sicherheit bieten: zum Beispiel als sicherer Hafen, in den man etwa nach Auslandsaufenthalten zurückkehren kann. Oder in Form von emotionaler Sicherheit durch Anerkennung, Respekt und Wertschätzung, indem sie ihren Kindern etwas zutrauen, ihnen aber auch zugestehen, scheitern zu dürfen. Und indem sie sich auf ihre Lebenswelt einlassen, sich Dinge erklären zu lassen, wenn Kinder das möchten. Wenn Eltern ihre Kinder dann noch finanziell unterstützen können, bietet das ebenfalls Sicherheit.  Aber Eltern müssen auch bereit sein loszulassen.

Welche jungen Menschen suchen die evangelischen Beratungsstellen auf?

Klein-Heßling: An den äußeren Enden stehen sich zwei Extreme gegenüber: Ein Teil hat im Leben bisher viel Abwertung erlebt, ist misstrauisch gegenüber Hilfe-Institutionen und häufig finanziell sehr schlecht gestellt. Dieser Teil sucht zu Beginn oft eher sozialpädagogische Beratung sowie Hilfe bei finanziellen Fragen. Wenn wir hier bei der Existenzsicherung unterstützen können, geht im Anschluss auch viel im Hinblick auf die psychologische Beratung. Beim anderen Teil kommen gerne die Eltern auf uns zu. Da spielt eine Überbehütung eine Rolle. Den Kindern wurde so viel abgenommen, sie haben kaum Grenzen gesetzt bekommen. Wird das ausufernd so gehandhabt, trifft man auf 18-Jährige, denen die einfachsten Dinge schwerfallen. Das führt dann zu Überforderung und Depression. Dazwischen gibt es viele, die einfach mit der Phase des Erwachsenwerdens zu kämpfen haben. Alle aber sind sie auf der Suche nach einem externen erwachsenen Gesprächspartner oder einer Gesprächspartnerin. Und an dieser Stelle sind wir für sie da.

  • 3.11.2021
  • Andreas Attinger
  • Red