Ein Jahr nach der Flut: Verwirrendes Gemisch der Gefühle

Claudia Rössling-Marenbach ist Pfarrerin der Evangelischen Kirchengemeinde Adenau im Kirchenkreis Koblenz.

Mitte Juli jährt sich die Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen zum ersten Mal. Wo stehen die Menschen, die Dörfer, die Städte jetzt? In einem Gastbeitrag schreibt Claudia Rössling-Marenbach, Pfarrerin an der Ahr, über das Leben mit den Folgen der Flutnacht:

An der Ahr gibt es eine Zeit „davor“ und eine Zeit „danach“: eine Zeit vor dem 14./15. Juli 2021 und eine Zeit danach. Es gab ein Leben vor der Flut und es gibt die Frage nach dem Leben nach der Flut. In wenigen Wochen jährt sich die Katastrophe, die die Existenz einer ganzen Region infrage gestellt hat, die so viele Leben gekostet hat, die Landschaften, Träume, Hoffnungen für immer verändert – wenn nicht zerstört hat.

Keine einfachen und schnellen Antworten

Wo stehen die Menschen, die Dörfer und Städte jetzt? Was treibt sie um? Wo sehen sie ihre Zukunft? Die Fragen lassen sich nicht einfach und schnell beantworten, denn so individuell wie die Schicksale sind, so individuell sind auch die Gefühle und Gedanken. Manche Familien konnten schon in ihre Häuser zurückziehen, nachdem sie monatelang irgendwo anders lebten – zum Teil getrennt voneinander. Sie lächeln, strahlen, planen ihre Gärten und freuen sich über das Geräusch zuschnappender Schubladen ihrer neuen Küche, die sie staunend betrachten – nicht glauben könnend, dass sie wirklich steht und funktionstüchtig ist.

Der Ort Ahrbrück, der zur Kirchengemeinde Adenau gehört, wurde bei der Flut im Juli 2021 massiv geschädigt.

Schlechtes Gewissen gegenüber den Nachbarn

Aber: Dürfen sie ihre Freude darüber offen zeigen? Oder müssen sie ein schlechtes Gewissen haben? Ein schlechtes Gewissen gegenüber ihrem Nachbarn in derselben Straße, der noch lange nicht so weit ist: Das Haus ist noch immer nicht abschließend begutachtet, es gibt zu wenig Handwerker, die zeitnah arbeiten können. Verhalten, um die tatsächliche Resignation nicht gar zu deutlich zu zeigen, erzählen diese Menschen von ihren Ängsten, dass die Finanzen nicht reichen werden. Und wiederum zwei Straßen weiter haben gerade noch einmal zwei Familien erfahren, dass ihre Häuser doch abgerissen werden müssen. Wo wird ihr neues Zuhause stehen? Werden sie Bauland finden? Müssen (oder wollen) sie wegziehen? Es ist ein verwirrendes Gemisch der Gefühle, das ganze Orte vor Zerreißproben stellt.

Schmerz über den Verlust der Familienmitglieder

Gar nicht beschreiben kann ich das Leid derer, die das Wichtigste in ihrem Leben verloren haben, das sie hatten: die Menschen, die sie liebten. Während den einen wenigstens die Hoffnung auf eine Zukunft bleibt, haben jene wohl noch lange Zeit nur den Schmerz an ihrer Seite und die grausame Frage in ihrem Kopf, wie ihre Freundinnen, Freunde oder Familienmitglieder gestorben sind. Oder sie haben letzte Augenblicke und Worte im Herzen, die sie nicht loslassen und ihnen den Schlaf rauben.

An welchem Punkt der Aufarbeitung stehen wir also gerade? Wir sind schon unglaublich weit gekommen und doch noch ganz am Anfang.

Hoffnung, dass es irgendwie weitergeht – aber die Gefühlslagen an der Ahr sind noch sehr unterschiedlich.

Hoffnung, dass es irgendwie weitergeht

Als Pfarrerin der Evangelischen Kirchengemeinde Adenau war ich in jener Nacht in dem kleinen Ort Schuld, der durch das Fernsehen so bekannt wurde. Wenn ich die tosende Ahr nicht mit eigenen Augen gesehen, ihre Wucht gehört und den Gestank von Gas und Öl gerochen hätte, ich hätte es nicht glauben können. Bilder (vor allem von den Tagen nach der Flutnacht), die ich mein Leben lang nicht vergessen werde. Als evangelische Kirche waren wir vom ersten Moment an vor Ort und wir werden es weiter sein. Ich durfte auch Ihre Spenden verteilen und damit ganz konkrete Hoffnung schenken, Hoffnung, dass es irgendwie weitergeht – wie auch immer.

 

Der Text ist der Juniausgabe des Magazins EKiR.info für Presbyterinnen und Presbyter entnommen. Die komplette Ausgabe findet sich zum Download hier.

  • 8.6.2022
  • Claudia Rössling-Marenbach
  • Claudia Rössling-Marenbach, Peter Dhein