Wir dürfen unser Mensch-Sein nicht verlieren

Dr. Julia Beier, Geschäftsführerin der Diakonischen Konferenz Duisburg, findet, dass die  Jahreslosung für 2022 – „Jesus Christus spricht: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen“ in einer Zeit in der Kontakte eine potentielle Gefahr sein können, auf den ersten Blick wie Hohn wirkt. In ihrer Andacht zeigt sie auf, dass die Bibelworte, die viele Menschen durch die nächsten zwölf Monate begleiten, auch ganz anders betrachtet werden können: „Wir müssen weiterhin aufeinander zugehen und Einladungen aussprechen; egal, ob im privaten Raum oder beruflich, wenn auch leider vorerst noch mit den entsprechenden Hygienemaßnahmen und nur in kleinen Gruppen. Im Zweifel muss die Begegnung dann eben – wo möglich – digital stattfinden, da der Lebensschutz natürlich an erster Stelle steht. Aber wir dürfen bei all dem unsere Menschlichkeit, oder besser, unser Mensch-Sein nicht verlieren.“

Der Text der gesamten Andacht steht hier als PDF-Download zur Verfügung.

 

Andacht zur Jahreslosung 2022:

Jesus Christus spricht: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.
Johannes 6,37

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
liebe Schwestern und Brüder,

die Jahreslosung für 2022 sollte die Grundlage für den Adventsgottesdienst der Diakonie sein, der am 14. Dezember 2021 stattgefunden hätte, wenn nicht…ja, den Grund kennen wir alle längst. Es ist nahezu immer derselbe, wenn etwas abgesagt wird in den letzten Monaten. Und wir alle können es einfach nicht mehr hören. „Wann ist dieser Albtraum endlich vorbei?“, fragen wir uns. So lange schon kämpfen wir täglich mit Einschränkungen, mit Ängsten um unsere Angehörigen und uns selbst, um Patientinnen und Patienten, Kolleginnen und Kollegen und Mitarbeitende. Und so lange schon sind unsere Kräfte am Ende. Der ständige Kampf um das Leben von Menschen, die uns anvertraut sind, das sofortige Umsetzen immer neuer Schutzverordnungen, das elende Wettrennen um Tests, Masken und Schutzausrüstung, die unzähligen Überstunden – all das zermürbt.

Gemessen an dem, was beispielsweise in unseren Einrichtungen der stationären Altenhilfe stattfindet, wirkt die Losung wie Hohn: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“

Jeder Mensch, der unsere Häuser betritt, erscheint uns als potentielle Gefahr für die verletzlichen Bewohnerinnen und Bewohner. Am liebsten würden wir Externe tatsächlich abweisen, und so geschah und geschieht es ja manches Mal auch, je nach Verordnungslage oder ihrem „G-Status“. Druck gibt es von allen Seiten, die Verantwortung ist riesig.

Und doch: Wir lassen Menschen in unsere Häuser, wenn wir es können und dürfen und wir freuen uns, wenn die Oma ihre Enkel in die Arme schließt, wenn Eltern ihre behinderte Tochter besuchen, um mit ihr spazieren zu gehen, wenn Obdachlose ihre einzige Mahlzeit des Tages in der Bahnhofsmission in Empfang nehmen. Und das tun wir eben auch in diesen Zeiten; ja, vielleicht freut es uns sogar noch mehr als sonst, wenn wir diese Begegnungen ermöglichen können; auch wenn wir gleichzeitig ein ungutes Gefühl haben. „Hoffentlich geht das gut, hoffentlich bringt dieser Mann uns nicht das Virus ins Haus“, denken wir. Denn wir wissen, dass es sich gerade von dem ernährt, was wir so dringend brauchen: Kontakte zu anderen Menschen.

Aber Menschen sind es eben auch, die alles tun, um das Virus zu bekämpfen. In der Forschung, in Krankenhäusern, in sozialen Einrichtungen, ja, sogar in der Politik… aber auch wir alle im Alltag: Maske Tragen und Hände Desinfizieren sind uns längst in Fleisch und Blut übergegangen. Und bei allen Kämpfen gegen Corona, die wir in fast zwei Jahren verloren haben, haben wir auf diese Weise auch etliche gewonnen. Denn so haben wir zahlreiche Ansteckungen verhindert. Nur lässt sich die Zahl der verhinderten Übertragungen schwerlich messen, weshalb sie uns nicht präsent ist, ja vielleicht gar nicht existent zu sein scheint. Wahrscheinlich denken viele von uns gar nicht darüber nach, da die Zahl der Kranken und Toten – anders als die Zahl der Gesunden und Lebenden – eine greifbare Größe ist.

Schreckliche Zahlen dürfen uns jedenfalls nicht dazu verleiten, unser Gegenüber nur noch als potentielle Bedrohung zu sehen. Wir müssen weiterhin aufeinander zugehen und Einladungen aussprechen; egal, ob im privaten Raum oder beruflich, wenn auch leider vorerst noch mit den entsprechenden Hygienemaßnahmen und nur in kleinen Gruppen. Im Zweifel muss die Begegnung dann eben – wo möglich – digital stattfinden, da der Lebensschutz natürlich an erster Stelle steht. Aber wir dürfen bei all dem unsere Menschlichkeit, oder besser, unser Mensch-Sein nicht verlieren.

Das Erlösende an der Einladung Jesu ist, dass wir sie ganz ohne Gefahr annehmen können; im Gegenteil, wir können ausschließlich gewinnen, wenn wir uns auf sie einlassen. Jede und jeder von uns, ganz egal, wer wir sind und in welcher Situation wir uns befinden. Jesus spricht seine Zusicherung, niemanden abzuweisen, kurz nach der Speisung der Fünftausend aus. Laut dem Johannesevangelium hat er so viele Menschen mit nur fünf Broten und zwei Fischen satt gemacht. Er will den Menschen, die dieses Wunder miterlebt haben und sich nun an ihn wenden, deutlich machen, warum Gott ihn auf die Erde gesandt hat. Mit seiner Rede, aus der der Vers der Jahreslosung stammt, will er zeigen, dass er die Tür ist, durch die wir zu Gott gelangen können. Doch wie kann uns das gelingen? „Auch eine schwere Tür hat nur einen kleinen Schlüssel nötig“, wusste schon Charles Dickens. Der Schlüssel zur Tür Jesu ist unser Glaube an ihn, unser Vertrauen darauf, dass er uns auch in dunklen Tagen zur Seite steht und uns hineinlässt, wenn wir es nur wollen.

So wünsche ich Ihnen trotz der Umstände fröhliche Weihnachten und ein glückliches und gesundes neues Jahr 2022.

Julia Beier

 

  • 20.12.2021
  • Rolf Schotsch
  • Rolf Schotsch