Auf dem Berge Nebo oder: Abschiedlich leben

„Du wolltest doch leben?
Ja, wolltest du denn / lauter Gold, das Blaue / vom Himmel, die Liebe, die Sonne?
Nichts ist hier umsonst, sammle / das Sterben in all seinen Gestalten, /
die Pein, den Schrei, die gemeine / Umarmung, den Kuss des erdachten / Verrats.“

So beschreibt der niederländische Dichter Cees Nooteboom in seinem gerade erschienen gleichnamigen Buch Abschied.
Abschied. An Tagen wie heute wird mir die schrecklich schöne Endlichkeit meines eigenen Lebens bewusst. Damit umzugehen, ist nicht so einfach. Zumindest für mich.
Mein Leben, es ist wunderschön und schrecklich zugleich. Mal berauschend, mal anstrengend.
Hier das Blau des Himmels, dort das Sterben in all seinen Gestalten.
Eben noch schwer, dann wieder schwebend leicht. Und – es ist endlich.

Mein Alltagstrott täuscht mich geflissentlich darüber hinweg.
Als würde alles immer so weitergehen, wie es ist.
Tatsächlich lebe ich Tag für Tag in einem Fluss von Abschieden und Neuanfängen.
Seit ich 2013 an die Akademie kam, hat rein statistisch die Hälfte der Einwohnerschaft Frankfurt gewechselt. Rund 350.000 Menschen, die weniger als acht Jahre hier leben.
Die EZB, die neue Altstadt, auch das neue Haus der Akademie gab es damals erst auf Plänen. Ich selbst durfte in dieser Zeit viele beindruckende Menschen kennenlernen.
Menschen, die mir lieb und teuer sind. Die einen blieben, die anderen gingen, neue kamen.
Sie haben die Theologischen Impulse, die Akademie und mich in dieser Zeit begleitet. Dafür möchte ich mich herzlich bei Ihnen bedanken.
Es waren für mich persönlich sehr intensive und gesegnete Jahre.
Eine wertvolle Zeit meines Lebens, die ich nicht missen möchte. Und zugleich eine endliche.

Damit umzugehen, ist eine Kunst. Der Philosoph Wilhelm Weischedel hat dafür den Begriff des „abschiedlich Lebens“ gefunden. Es bewusst anzunehmen, dass das Sterben und Loslassen fester Teil meines, unseres Lebens ist.
Wir leben.          Jeden Tag.     Neu aus dem Tod.
Und sterben.     Jeden Tag.     Hinein in das Leben.

Ich selbst habe für mich dazu verschiedene Strategien entwickelt.
Meine erste Strategie: Ich gehe wandern. Nicht zu langsam, nicht zu schnell.
Mein ganz eigenes Tempo. So, dass ich mich selbst gut spüren kann.
Meine Füße müssen etwas zu tun haben, damit sich in meiner Seele etwas löst.
Und damit ich verstehe, dass ich selbst ständig im Fluss bin.
Die zweite Strategie: Ich mache alles dunkel, lege mich lang auf mein Bett und lasse meinen Gedanken vor Gott freien Lauf. Denken im Dunkeln, Beten im Bett, eine Unterbrechung im Lauf der Zeit – meine ganz eigene Form, mit Gott zu kommunizieren.
Und die dritte: Ich lese in alten Geschichten, wie Menschen früher damit umgegangen sind.
Ein Gespräch mit den Müttern und Vätern unseres Glaubens.
Das hilft mir, die Kunst des „abschiedlichen Lebens“ einzuüben. Immer wieder neu.

Ein besonderer Meister dieser Kunst ist Mose.
Sein Leben ist von permanenten Abschieden und Neuanfängen bestimmt.
Kaum geboren, wird er von seiner Mutter in einem Schilfkorb auf dem Nil ausgesetzt.
Sie versucht ihn so vor den Soldaten des Pharaos zu schützen, die alle männlichen Säuglinge der Hebräer töten sollen. Und wie im Märchen wird der kleine Mose von der Tochter des Pharaos gerettet. Mose wächst auf, zuerst zu Hause bei seiner eigenen Mutter als Amme, dann im Palast des Pharaos. Ein Grenzgänger zwischen den Welten.
Sein zweiter Abschied ereignet sich, als er im Zorn einen ägyptischen Sklavenhalter tötet.
Der hatte einen seiner hebräischen Brüder geschlagen.
Mose flüchtet nach Midian, heiratet, bekommt Kinder, wird zum Schafhirten.
Und wieder ein Abschied, diesmal initiiert durch Gott. Er erscheint Mose im brennenden Dornbusch, beruft ihn, das Volk Israel aus Ägypten zu führen. Zwei lange Kapitel dauert es, bis der zögernde Mose endlich überzeugt ist und Gott auch seinen letzten Einwand beseitigt hat.
Und Mose bricht auf nach Ägypten, zu seinem Volk und zum Streit mit dem neuen Pharao.
10 Plagen wird er im Namen Gottes über den Pharao und sein Reich bringen, bis dieser endlich das Volk Israel ziehen lässt. Der Exodus – Auszug aus der Knechtschaft und Aufbruch in das verheißene Land. Das Symbol eines „abschiedlichen Lebens“ schlechthin. Die Sklaverei, aber auch die Fleischtöpfe Ägyptens hinter sich lassen, um etwas Neues zu entdecken. Für ein Land, darin Milch und Honig fließt. Für das es aber eben durch die Wüste zu gehen gilt.
40 Jahre wird diese Wanderung dauern. So lange, bis auf Josua und Kaleb niemand mehr von der ersten Generation lebt. 40 Jahre, in denen das Volk in Zelten lebt. Und von Manna, dem Himmelsbrot, das wie Tau am Morgen daliegt und nicht länger als einen Tag hält.
40 Jahre Einübung im Empfangen und Loslassen, Sterben und Auferstehen, im „Haben, als hätte man nicht“.
Am Ende seines Weges kommt dann der letzte Abschied: Mose singt, segnet und stirbt.
Er singt ein Lied von dem Weg Gottes mit seinem Volk Israel. Davon, wie das Volks halsstarrig ist, murrt, andere Wege geht – und wie Gott es am Ende doch ans Ziel führt.
Er segnet die Stämme Israels, einen jeden auf seine besondere Weise.
Und er stirbt, alleine mit Gott. Kurz vor dem verheißenen Land, das er sehen, aber nicht betreten wird. Oben auf dem Berge Nebo.
„Und Mose stieg aus den Steppen Moabs auf den Berg Nebo, den Gipfel des Gebirges Pisga, gegenüber Jericho.
Und der Herr zeigte ihm das ganze Land: Gilead bis nach Dan und das ganze Naftali und das Land Ephraim und Manasse und das ganze Land Juda bis an das Meer im Westen und das Südland und die Gegend am Jordan, die Ebene von Jericho, der Palmenstadt, bis nach Zoar.
Und der Herr sprach zu ihm: ‚Dies ist das Land, von dem ich Abraham, Isaak und Jakob geschworen habe: Ich will es deinen Nachkommen geben. – Du hast es mit deinen Augen gesehen, aber du sollst nicht hinübergehen.‘
So starb Mose, der Knecht des Herrn, daselbst im Lande Moab nach dem Wort des Herrn.
Und Gott begrub ihn im Tal, im Lande Moab gegenüber Bet-Peor. Und niemand hat sein Grab erfahren bis auf den heutigen Tag.“

Wir sind nicht Mose. Sein Leben ist nicht unser Leben.
Aber wir können von ihm lernen, was es heißt, „abschiedlich zu leben“.
Abschiedlich leben.
Das meint, so zu leben, dass wir am Ende unser Lied singen können.
Die Liebes-, die Klage-, die Hoffnungsstrophen: das Lied unseres eigenen Lebens.
Von den ganz eigenen Wendungen, die unser Leben genommen hat.
Wie wir das eine geplant haben, und das andere kam. Wie wir mal murrten, mal jubelten.
Und wie Gott in dem allen uns zu einem guten Ziel geführt hat:
„Der Wolken, Luft und Winden, gibt Wege, Lauf und Bahn,
der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann.“ (P. Gerhardt)

Abschiedlich leben.
Das heißt, dass wir das Zeitliche segnen können.
Die Menschen segnen, die gemeinsam mit uns auf dem Weg sind.
Unsere Freunde, unsere Feinde und die vielen dazwischen.
Unser Glück und unsere Erfolge, wo unser Leben gelingt.
Und unser Scheitern, unsere Verluste, wo sich Träume nicht erfüllen.
Das „Zeitliche zu segnen“ meint, beides, das Schöne wie das Schwere, in Gottes Hand zu geben.
Uns selbst, dieses widersprüchliche Wesen „Mensch“, im Licht seiner Liebe zu sehen.
Um am Ende unserer Tage einmal in den Satz Gottes, unseres Schöpfers, einstimmen zu können: „Und siehe, es war sehr gut.“

Abschiedlich leben.
Dazu gehört es, dass wir uns von Gott an die Orte unseres Lebens führen lasse.
Den Nil, den Dornbusch, die Wüsten unseres Lebens. Und am Ende auf den Berg Nebo.
Um uns von Gott das verheißene Land zeigen zu lassen.
Ich habe es immer als ungerecht empfunden, dass Mose nicht in das Land hineindurfte.
Nach allem, was in 40 Jahren Wüste gemeinsam hinter ihnen lag. Dieses kurze, letzte Stück.
Nur, weil er gehadert hatte, als dem Volk das Wasser in der Wüste ausging.
Heute denke ich: Was für eine Poesie! Der „Casablanca“-Moment im Leben des Mose.
Da steht Mose also auf dem Berg und Gott zeigt ihm bis ins Detail, wo wer wohnen wird.
Gott, so heißt es, redete mit ihm, „wie ein Mann mit seinem Freunde spricht“.
Und dennoch bleibt auf unserer Seite des Flusses immer etwas offen, unerfüllt.

Was für ein starkes Bild dafür, wie es sein wird, wenn wir einmal an unseren Jordan treten.
An die Grenze des uns verheißenen Landes.
Dass Gott uns dann zeigen wird, was er dort mit uns vorhat.
Aber auch wir werden diese Land nur als Verwandelte betreten.
Dieser Teil unserer Geschichte bleibt allen anderen verborgenen. Auch uns selbst.
So wie das Grab des Mose dem Volk Israel.
Das letzte Geheimnis unseres Lebens ruht in Gottes Hand. Und das ist gut so.

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Theologische Impulse 81, von Dr. Thorsten Latzel

Foto: S. Hermann & F. Richter auf pixabay.de (Banksy, Girl with Balloon)

  • 13.3.2021