Der Hoffnung gemeinsam eine Stimme geben

Der Gemeindegesang gehört zu den grundlegenden Errungenschaften der Reformation. Der Hoffnung gemeinsam eine Stimme geben. Bei uns hat jede und jeder was zu singen. Der notwendige Verzicht auf das gemeinsame Singen während der Pandemie war deswegen ein tiefer Verlust. Und er war zugleich symbolisch für diese Zeit insgesamt. Unsere Stimmen sind verstummt. Wir begegnen uns mit Masken als „Menschen ohne Münder“. Und damit hat auch unsere Hoffnung eine wichtige Sprache verloren. Das gemeinsame Singen. Die Erfahrung stärkender Gemeinschaft. Eine Stimme, die zugleich tief hineinreicht in die eigene Seele. „Wer singt, betet doppelt.“ (Martin Luther) Und singen lehrt beten, wo wir es verlernt haben. Das alles hat gefehlt.

Zugleich gab es in der Corona-Zeit eine hohe kirchenmusikalische Kreativität. Es gab neue Formen der digitalen Vermittlung, etwa bei dem Video „Singt mit“ aus verschiedenen Gemeinden der Evangelischen Kirche im Rheinland zu Kantate 2021 oder dem Online Musikprojekt „Begeistert“ vor einem Jahr. Es gab Balkon-Singen, Straßen-Konzerte vor Heimen. Wenn wir jetzt wieder unter bestimmten Bedingungen gemeinsam singen dürfen, ist dies ein hörbares Zeichen des Aufbruchs, der Hoffnung. Auch über Corona hinaus. Unsere Aufgabe als Kirche ist es insgesamt, Hoffnung gemeinsam eine Stimme zu geben. Sorgen, Angst, Tod, Zweifeln nicht das letzte Wort zu lassen. Das ist der ureigenste Beruf der Kirchenmusiker-/innen: Sie helfen Menschen gemeinsam zu singen von der anderen Wirklichkeit Gottes.

In sieben Thesen möchte ich kurz skizzieren, wie die Zukunftsperspektiven der Kirche mit der Kirchenmusik aus meiner Sicht verknüpft sind.

1. Hoffnung gemeinsam eine Stimme geben (geistliche Orientierung)

Es gibt weniges, was unsere Gesellschaft nach der Pandemie und in ihren vielfältigen Veränderungen (ökologisch, digital, …) so sehr braucht wie Hoffnung. Das ist zugleich die Kernaufgabe von Kirche: Rechenschaft zu geben von der Hoffnung, die in uns ist (1. Petr 3,15). Konkret heißt das, nach alten und neuen Liedern zu suchen, sie anzustimmen, die Menschen heute wirklich Hoffnung geben. So zu musizieren, dass sich die Seelen weiten, sich neue Horizonte öffnen.

2. Mit Musik individueller Vielfalt Raum schaffen (Mitgliederorientierung)

Bei soziologischen Studien gibt es wenige Dinge, die die verschiedenen Milieus so stark markieren wie der Musikgeschmack. Für die Zukunft der Kirche wird es wichtig sein, dass wir uns neu an allen unseren Mitgliedern als getauften Gliedern am Leibe Christi orientieren. Und sie fragen, was sie für ihren Glauben, ihr Leben brauchen. Dafür spielt Musik eine zentrale Rolle. Nicht wir schreiben den Menschen vor, wie sie singen sollen. Sondern wir lernen mit und von ihnen, was ihre Seele zum Klingen bringt, wie wir gemeinsam singen können. Welche Musikrichtung sie lieben, mitsingen können. „Wie hören wir sie denn ein jeder in seiner und ihrer Muttersprache?“ (Apg 2,8) Das ist das Wunder von Pfingsten, am Anfang der Kirche. Dem gilt es musikalisch zu entsprechen. „Wie hören wir sie denn eine jede und einen jeden in seiner und ihrer Weise musizieren?“ Ein wichtiges Beispiel sind dafür die Kasualien. Gerade hier spielen lebensweltliche Offenheit und biographischer Bezug eine große Rolle. Es gilt: Den Reinen ist alles rein (Tit 1,15).

3. Kirche als Konzert verschieden profilierter Angebote gestalten (Organisation)

In Zukunft wird die Zusammenarbeit in Regionen und Kirchenkreisen eine noch größere Rolle spielen. Unsere verwaltungsmäßige Zuordnung von Menschen nach dem ersten Wohnsitz ist hilfreich für eine geregelte kirchliche Grundversorgung, sie spiegelt die Lebenswelten von 90% unserer Mitglieder, die nicht am Gemeindeleben teilnehmen, aber nicht wider. Wir brauchen ein Konzert von verschieden profilierten Orten in einer Region bzw. einem Kirchenkreis. Die eine Kirche mit Volksmusik zum Mitschunkeln und etwas Helene-Fischer-Atmosphäre, die andere als geistliche Lounge mit einer Mischung von Jazz, Indi, experimenteller Musik, eine dritte mit hochkulturellen Angeboten.

4. Konfirmanden-/innen, junge Paare und Taufeltern befragen (Junge Generation)

Für die Zukunft der Kirche spielt es eine zentrale Rolle, wie sehr uns die Vermittlung des Glaubens an die nächste Generation gelingt. Dazu müssen wir junge Menschen aktiv einbeziehen, ihren Wünschen, Vorstellungen Raum geben. Sie selber singen und mitentscheiden lassen. Es gibt in vielen Feldern der Gesellschaft gegenwärtig Prozesse des „re-mentorings“, die Alten lernen (auch) von den Jungen. Das sollten wir konsequent auch im Bereich von kultureller und musikalischer Gestaltung unserer Gottesdienste berücksichtigen. Wir brauchen den Dialog mit kulturellen Trendsettern, mit innovativen, jungen Köpfen, mit den Expeditiven. Und: die Konfirmand-/innen als eine der größten Besucher-/innen-Gruppe der Gottesdienste sollte über die Auswahl der Lieder vorab mitentscheiden können.

5. Miteinander digital kommunizieren und musizieren (Digitalisierung)

Von den besonderen digitalen Projekten der Kirchenmusik in der Corona-Zeit war bereits die Rede. Solche Modelle und Formate werden wir in Zukunft weiter brauchen. Und es ist m.E. kein Zufall, dass zu den am stärksten geklickten Videos der EKiR die mit musikalischen Projekten gehört: Weil hier viele Menschen zusammenwirken. Weil es hier etwas zu genießen und nicht nur zu verstehen gibt. Kirchenmusik in digitaler Form brauchen wir daher nicht nur als Ersatz, sondern als fest etablierte Säule der Arbeit. Die Zukunft wird auch bei Chören und Instrumentalmusik in der Kirche hybrid sein.

6. Die Lieder der anderen lernen (Vernetzung)

Wir werden als Kirche zukünftig noch viel stärker vernetzt mit anderen Partnern agieren. In ökumenischen Partnerschaften. Im Sozialraum oder in der Quartiersarbeit mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren. Mit Menschen, die unser Evangelisches Gesangbuch nicht kennen. Hier brauchen wir eine Kirchenmusik, die Brücken bauen kann. Eine Kirchenmusik mit dem Mut und der Kompetenz zum cross-over, zur gelungenen kreativen Verbindung der eigenen musikalischen Tradition mit den Liedern, Melodien, Rhythmen der anderen. Solche kirchenmusikalischen Lernfelder sind die Gemeinden anderer Sprache und Herkunft, Treffpunkte in der diakonischen Quartiersarbeit, Schulhöfe, Krankenhäuser, Büros. Der Mitmach- und Mutmach-Song „Jerusalemah“ aus dem letzten Jahr war dafür ein starkes Beispiel.

7. Neue Lieder des geistlichen Aufbruchs (transformative Spiritualität)

Das Stichwort von der „Großen Transformation“ bezeichnet den tiefgreifenden Wechsel, vor dem wir als Gesellschaft insgesamt stehen im Blick auf unsere Konsum-, Arbeits-, Lebensweise. In den 17 Sustainable Development Goals (SDGs) werden Zielpunkte dieser Entwicklung beschrieben. Eine wichtige Frage an die Kirche ist, was wir von unserer eigenen geistlichen Tradition dazu beitragen. Sinneswandel, Buße, Metanoia sind ja urchristliche, urreformatorische Themen: „Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: ‚Tut Buße‘, hat er gewollt, dass das ganze Leben eine Buße sei.“ (1. These, 1517). Was tragen wir davon aber hinein in den großen Wandel unserer Zeit? Uwe Schneidewind spricht hier von einer „transformativen Spiritualität“. Eine Zukunfts-Aufgabe der Kirchenmusik wird daher auch darin bestehen, Melodien, Klänge, Lieder zu vermitteln, die Menschen freisetzen und ihnen helfen, anders zu leben. „Ein neues Lied wir heben an“ – das brauchen wir. Nicht nur als Kirche, sondern als Gesellschaft.

Schließen möchte ich mit einem sehr persönlichen Blick zurück, wie Kirchenmusik mich im letzten Jahr besonders begleitet hat: Meine letzte Veranstaltung in der Evangelischen Akademie Frankfurt vor Corona fand statt zum Berufsbild des Kirchenmusikers/der Kirchenmusikerin. Danach kam der Lock-Down. Und auch meine Stimme verstummte. Bei meinem Einführungsgottesdient hat Herr Abendroth zu einem Textstück meiner Predigt ein eigenes Lied komponiert: „Weil du bist.“ Das hat mich tief berührt. Als der Chor im Gottesdienst gesungen hat, fühlte ich mich wirklich angekommen als Präses in unserer Evangelischen Kirche im Rheinland. Zu Pfingsten konnte ich schließlich einen Gottesdienst in Altenberger Dom feiern – mit einer starken Orgelmusik von Andreas Meisner von Abba bis zur Filmmusik aus „Fluch der Karibik“. Zu diesem letzten Gottesdienst habe ich prompt kritische Anfragen erhalten, wie wir als Kirchen denn so etwas machen könnten. Meine Antwort: Als ich meiner Tochter Charlotte (15) die liturgische Playlist des Gottesdienstes genannt habe, sagte sie: „Oh Mensch, schade, dass ich da nicht dabei war.“ Für solche Sätze junger Menschen beantworte ich gerne jede kritische Mail.


Diesen Vortrag hielt Präses Dr. Thorsten Latzel am 19. Juni auf einem Treffen von Kirchenmusikerinnen und -musikern.

  • 19.6.2021