„Wir haben immer noch eine kirchliche Glaubenssprache, die viele ausgrenzt“

Der Beschluss 66 der Landessynode 1991 hat die frauenpolitische Arbeit in der rheinischen Kirche maßgeblich beeinflusst. Zur aktuellen Synode legt die Gender- und Gleichstellungsstelle dazu die Broschüre „Frauengeschichte*n“ vor. Im Interview spricht Mitherausgeberin Irene Diller über die Folgen des Beschlusses, eine veränderte Frauenbewegung und die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit.

Irene Diller ist theologische Dezernentin der Gender- und Gleichstellungsstelle der rheinischen Kirche.

Frau Diller, mit dem Beschluss 66 hat die Landeskirche vor 30 Jahren „Fragen, die Frauen im Blick auf ihre Kirche bewegen“, stärken wollen. Mit welchen Konsequenzen?
Irene Diller:
Mit weitreichenden Konsequenzen, die die Kirche nachhaltig verändert haben. Praktisch hatte der Beschluss zur Folge, dass das landeskirchliche Frauenreferat eingerichtet wurde, was ja auch in die unmittelbaren Entscheidungskompetenz der Landessynode fällt. Die anderen Teile des Beschlusses hatten Appellcharakter. Auch die Kirchenkreise sollten dafür Sorge tragen, dass die Themen, die Frauen im Blick auf ihre Kirche bewegen, nach Möglichkeit durch ein hauptamtliches Frauenreferat vertreten werden. Die theologische Frauenforschung sollte einen angemessenen Platz in Forschung und Lehre bekommen. Und es wurde ein Ziel gesetzt, dass bis 1996 alle Gremien geschlechterparitätisch besetzt sein sollten. Dieses Ziel haben wir bis heute noch nicht erreicht, aber 30 Jahre sind in der Kirche ja auch ein kurzer Zeitraum.

Welchen Anteil hatten die Frauenverbände an der Entwicklung?
Diller:
Die Verbände kommen in dem Beschluss nicht vor, aber ohne die Vorarbeit der Frauenverbände, -vereine und natürlich der vielen freien Gruppen sind dieser Beschluss und die Arbeit der Frauenreferate kaum denkbar. In gewisser Weise sind die Verbände die Schultern, auf der die nächste Frauenbewegung steht. Sie selbst waren Kinder der ersten Frauenbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts, die Frauenreferate waren Kinder der zweiten Frauenbewegung in den 1970er und 1980er Jahren. Wir sind heute mitten in der dritten Frauenbewegung, die weltweit sehr machtvoll ist. Und welche Form sie bei uns in der Kirche findet, ist noch völlig offen.

Die Frauenreferate in den Kirchenkreisen sind zum Teil schon wieder aufgelöst. Nach 30 Jahren Beschluss 66: Ist das Glas aus Ihrer Sicht eher halbvoll oder halbleer?
Diller:
Strukturell und was die Wertschätzung angeht, ist das Glas eher halbleer. Inhaltlich ist es halbvoll, denn unsere Kirche hat viele Themen aufgenommen, die aus den Frauenreferaten gekommen sind. Manches ist in den Mainstream übergegangen, manches wird an anderer Stelle weiterverfolgt und aufgegriffen. Es ist aber eine offene Frage, inwieweit die guten Anfänge, die gemacht wurden, unsere Kirche auch in Zukunft prägen werden. Vor dieser Entscheidungsfrage stehen wir auch bei den weiteren Sparbeschlüssen.

Welche Defizite müssten am dringendsten behoben werden?
Diller:
Als Theologin muss ich als Erstes sagen: Wir haben immer noch ein patriarchal geprägtes Gottesbild und eine kirchliche Glaubenssprache, die viele ausgrenzt. Moderne Frauen fühlen sich aus diesem Grund in unseren Gottesdiensten und Liturgien oft nicht zu Hause. Aus Sicht der Organisationsentwicklung kann man auch sagen: Leitungspositionen sind bei uns immer noch ganz überwiegend männlich besetzt. Auch da können wir von anderen Organisationen lernen und müssen unsere eigenen Beschlüsse und Vorsätze ernst nehmen. Insgesamt geht es jetzt um Profilbildung, den Abschied von der Strategie „Weniger desselben“ und um die Öffnung für gesellschaftliche Gerechtigkeitsthemen.

Die Frauenbewegung ist inzwischen viel diverser geworden. Gibt es überhaupt noch einen gemeinsamen Nenner und Brücken, die gebaut werden zwischen den Generationen?
Diller:
Inhaltlich sind die Brücken da und tragen auch: Es geht um gleiche Chancen, Nein zu Gewalt und mehr Gerechtigkeit für alle Geschlechter. Aber die Organisationsformen haben sich sehr verändert. Heute wird in Kampagnen gearbeitet. Es geht auch nicht mehr so sehr darum, das nächste Gesetz zu erkämpfen, sondern um eine veränderte Haltung hin zu einer diversitätssensiblen Kirche und Gesellschaft. Für die Kirche und auch für die kirchliche Frauenarbeit ist es ein Lernprozess, sich auf diese kampagnenartigen Aktionen einzustellen. Wir haben uns zuletzt sehr intensiv mit der Frage der Partizipation beschäftigt. Das ist genau die nötige Umkehrung unseres Blicks: Wir machen nicht mehr nur Angebote und laden dazu ein, sondern wir fragen nach den Bedürfnissen und danach, wie sich diese mit unseren Inhalten verbinden lassen. In den 1980er Jahren waren die Frauen-, Friedens- und Ökologiebewegung noch stark in der Kirche verortet. Heute haben wir da ein bisschen den Geist der Zeit verpasst. Und die jungen Leute, die für diese Inhalte antreten, finden bei uns nicht immer offene Türen und auch nicht die Sprache, die sie sprechen.

Die Kirche ist im Umbruch. Wenn es um ihre Neuausrichtung geht, was könnte sie von der kirchlichen Frauenarbeit lernen?
Diller:
Vor allem die Orientierung an der Vielfalt und der Lebenswirklichkeit. In der kirchlichen Frauenreferatsarbeit wurde vor 30 Jahren mit interreligiösen Frauengruppen angefangen. Wenn Sie heute auf den interreligiösen Dialog blicken, findet er auf den Leitungsebenen in sehr kleinen, moderaten Schritten statt. Aber an der Basis gibt es längst interkulturelle Frauenfrühstücke und interreligiöse Frauenchöre. In der Praxis haben die Frauen schon ganz viel erprobt von dem, was an Öffnung, Modernisierung und niedrigschwelligen Angeboten möglich ist. Was wir mit den Erprobungsräumen jetzt als sinnvolles Projekt neuer Gemeindeformen anstoßen, hatte in den Frauenreferaten schon einmal begonnen. Aber die Kirche hat es nur als Nische wahrgenommen. Und diese mangelnde Bereitschaft, als Ganzes daraus zu lernen, fällt uns heute auf die Füße.


Die Broschüre „Frauengeschichte*n“ von Irene Diller und Beate Ludwig steht unter 
www.ekir.de/url/YrR  zum Download bereit, kann aber auch unter der Mailadresse gender@ekir.de oder Telefon 0211 4562-678 bestellt werden.

Info: Zur Person

Irene Diller ist seit August 2007 theologische Dezernentin der Gender- und Gleichstellungsstelle der Evangelischen Kirche im Rheinland. Davor war die heute 52-Jährige neun Jahre lang als Pastorin in Duisburg tätig, davon die letzten fünf Jahre im evangelischen Frauenhaus.

  • 12.1.2021
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