Der Stall in unseren Häusern. Es wird sich begeben zu unserer Zeit …

„Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste …“ 

Ich sehe vor mir einen großen Raum. Eine Kerze für jeden Menschen, der bei uns in Deutschland mit und an Corona gestorben ist. Laut RKI am 7. Dez. – 18.919. Wollte man die Kerzen entzünden, eine pro Sekunde, 60 pro Minute, 3.600 pro Stunde, wir wären am 7. Dez. bei über fünf Stunden. Jede Kerze bräuchte einen Platz. Dicht an dicht gestellt. 10 x 10 cm. 100 Kerzen pro m2. Am 7. Dez. wären es 189 m2. Eine Fläche, so umfangreich wie der Große Saal in unserer Akademie. Und jeden Tag kämen zurzeit drei, vier, fünf Quadratmeter dazu. Sechs, sieben, acht Minuten länger zum Entzünden. Die Zahlen zerrinnen mir. Sie sind zu groß. Ihre nackte Statistik fasst nicht die einzelnen Leben, die sie zählen sollen. Jede steht für einen Menschen, der dieses Jahr Weihnachten nicht erlebt, der anderen fehlen wird.

„Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das judäische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, darum, dass er von dem Hause und Geschlechte Davids war, auf dass er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger.“ 

An Weihnachten fahren meine Frau, unsere drei Kinder und ich immer zu den Großeltern. Am ersten Feiertag zu meinen Schwiegereltern in Niederasphe. Am zweiten zu meinen Eltern in Bad Berleburg. Viel zu viel essen. Für die Kinder mittlerweile vegetarisch. Viel zu viel reden. Meistens alle gleichzeitig. Wer atmet, gibt das Rederecht ab. Viel zu viele Geschenke. Weihnachten ist immer auch eine Reise in das Land der eigenen Kindheit. „Darum, dass er aus dem Hause und Geschlechte Davids war.“ Das eigene „Bethlehem“, Haus des Brotes, mit vertrauten Gerüchen, Geräuschen, Geschichten. Eigentlich. Dieses Jahr werden wir nicht fahren. Das erste Mal. Weil es wie damals besonders vulnerable Gruppen gibt. Diesmal meine Eltern und Schwiegereltern. Die Generation der „Josefs“ und „Marias“. Meines Josef und meiner Maria. Die Rollen der „Heiligen Familie“ sind dieses Jahr mit Senioren besetzt.

„Und als sie daselbst waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.“ 

Sich allein zu fühlen, ist immer schlimm. An Weihnachten besonders. Wenn andere gemeinsam feiern. Wenn es darum geht, dass Gott als Mensch in unser Leben kommt. Aber mich niemand besucht. Das ist eine der Gefahren in diesem Jahr: dass wir einander fehlen. Selbst zu den Gottesdiensten braucht es Voranmeldungen. Es wird dieses Jahr viele Ställe geben: in Wohnungen, Seniorenheimen, Single-Haushalten. Das „unbehauste“ Gefühl, „keinen Raum in der Herberge“ zu haben, keinen Ort, um mit und bei anderen geborgen zu sein. „Wenn Gast kommt, Gott kommt.“

Und dennoch: „Es wird sich begeben zu unserer Zeit …“. So lautet die Verheißung. Die Pointe von Weihnachten ist ja gerade, dass wir es nicht machen können. Im Corona-Jahr 2020 so wenig wie in in jedem anderen. „Es wird sich begeben zu unserer Zeit …“. Wir schmücken, backen, kochen, kaufen Geschenke, bereiten das Fest. Doch dass sich Weihnachten ereignet, dass Gott mir begegnet, liegt nicht in meiner Hand. Und manchmal waren es in früheren Jahren sogar die Pannen, die mich aus unheiliger Geschäftigkeit gerissen haben. Wenn der Baum einfach zerrupft ausgesehen hat, Päckchen nicht ankamen, es vor lauter geballtem guten Willen zum Streit kam – und es am Ende dennoch „Heilige Nacht“ wurde. Das macht das Alleine-Sein nicht einfach wett. Oder das viele andere, was in diesem Jahr nicht geht. Aber es lässt dem allen auch nicht das letzte Wort. „Es wird sich begeben zu unserer Zeit …“. Die Voraussetzungen waren schon damals in der ersten Heiligen Nacht nicht ideal. Was Gott aber nicht weiter gehindert hat. Ob Ostern oder Weihnachten, Auszug aus Ägypten oder Wanderung durch die Wüste: Gott ereignet sich in Zeiten, wenn wir am Wenigsten damit rechnen. Wie in den Psalmen, wenn die Klage auf einmal in Dank umschlägt – ohne dass wir wüssten, warum oder wie. Das Wunder geschieht zwischen den Zeilen.

„Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht!“ 

Ich weiß nicht, ob die „Hirten in derselben Gegend“ eigentlich von Anfang an Teil der geplanten himmlischen Inszenierung waren. Vielleicht wurden sie von Engeln auch spontan dazu eingeladen. Heilige Improvisation. „Engel“ und „Hirten“. Sie stehen stellvertretend für das, was Gott tut und was wir tun.

Was ist meine kreative Improvisation in diesem Jahr? Werde ich meinen Eltern einen Brief schreiben – was ich bisher noch nie gemacht habe? Werden wir eine Fest-Video-Schaltung machen, um online gemeinsam zu essen? Werden wir einen Haus-Gottesdienst feiern, wenn die öffentlichen Feiern ausgebucht sind? Kerze, Stille, einen Psalm sprechen, Lukas 2 lesen – und Weihnachts-Lieder singen (auch wenn’s nicht nach Engeln klingt)?

Nach der ersten Welle gab es eine Diskussion darüber, was „die Kirchen“ in der Pandemie gemacht haben. Aus evangelischer Sicht fand ich die Debatte merkwürdig. Kirche ist für uns zuallererst ja gerade nicht eine Institution, sondern die Gemeinschaft der Glaubenden. Kirche sind wir. Die evangelische Kirche hat über 20 Millionen Priesterinnen und Priester. Die Frage, was „die Kirche“ in der zweiten Welle an Weihnachten macht, ist eine persönliche Frage an mich. Ob ich mich in „heiliger Improvisation“ übe – und in der notwendigen Distanz für andere zum Priester, Engel, Hirten werde. Vielleicht weitet es sogar meinen Blick über meine Familie, auf die Menschen in den Wohnungen nebenan. In anderen Ländern. Die Hirten waren ja auch nicht mit Josef und Maria verwandt.

„Und da die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Lasst uns nun gehen gen Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat. Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen.“ 

Wie kann ich mich aufmachen, ohne physisch zu reisen, mich geistlich bewegen, ohne herumzufahren? Bei den Mönchen gab es früher zwei Formen der geistlichen Suche: die religiöse Reise, pilgernd unterwegs (peregrinatio religiosa) – und die bewusste räumliche Konzentration, das Verbleiben an einem Ort (stabilitas loci). In diesem Jahr ist von mir wohl das zweite gefragt. Ein Weg aus meiner Geschäftigkeit – zu einer anderen, tiefen Begegnung: mit Gott, mir selbst, den anderen. Indem ich lese, Stille aushalte, in Ruhe telefoniere, puzzle, Musik höre, koche, spazieren gehe, anderen schreibe, nachdenke über das, was mir eigentlich wichtig ist. Und mich von dem überraschen lasse, was in dieser Zeit passiert.

„Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen. Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war.“ 

Ich weiß nicht, welche Geschichten unsere Generation einmal von diesem Weihnachten erzählen wird. Ich hoffe, dass sie wenig vom Alleine sein oder neuen Verstorbenen handeln wird. Aber viel von der himmlischen Kreativität, wie wir einander Engel, Hirte oder Priesterin wurden. Davon, wie wir neu entdeckten, wie wir für andere da sein können.

Und ich vertraue darauf, dass Gott dabei an unserer Seite ist.

„Es wird sich begeben zu unserer Zeit …“

Theologische Impulse 80, von Dr. Thorsten Latzel

Foto: blenderfan/pixabay.com

  • 13.12.2020