„Kirche des Klanges“ – Musikalische Zugänge zu einem evangelischen, kirchlichen Selbstverständnis

Als evangelische Kirche verstehen wir uns oft als „Kirche des Wortes“. Der Glaube kommt aus dem Hören (Röm 10,17). Jesus Christus selbst ist das eine, maßgebliche Wort Gottes. Wir hören das „äußere“ Wort, Gottes Geist spricht sein „inneres“ Wort – und weckt so Glauben in uns, wo und wann es ihm gefällt. So weit, so richtig, so gut.

Nur leider führt dies dazu, dass es in unserer Kirche mitunter recht kopflastig zugeht.
Wir reden und reden und reden, als ob es kein Morgen gäbe. Etwa im Gottesdienst: Begrüßung, Psalm, Lesung, Gebet, Predigt, Fürbitten. Vielleicht aus Zweifel, dass Gottes Geist wirklich wirkt. Mehr eine „Kirche der Wörter“ als des Wortes. Für Mystik, Wunder, Poesie, Sinnlichkeit, Schweigen, Stille bleibt da wenig Raum. Und selbst wenn es zur Stille kommt, wird sie oft domestiziert – mit einer Fülle pädagogischer Anweisungen: „Achten Sie auf Ihren Atem. Fühlen Sie den Boden unter Ihren Füßen. Bleiben Sie ganz bei sich. Hören Sie nur in sich hinein. Bewerten Sie nicht. Lassen Sie die Bilder einfach zu. Lassen Sie Ihren Gedanken freien Lauf.“ Würde ich ja, wenn man mich nur ließe. Zerredetes statt beredtes Schweigen. Pädagogisierte Gefühligkeits-Mystik.

Vielleicht wäre es daher gut, wenn wir nicht nur von einer „Kirche des Wortes“, sondern einer „Kirche des Klanges“ reden würden. Gerade die Kirchenmusik kann dazu neue Zugänge bieten.

1. „Kirche des Klanges“ und die reformatorischen Wurzeln:
Zu den ur-protestantischen Erfahrungen gehört, dass sich der evangelische Glaube vor allem durch das eigenständige Singen von Gemeindeliedern verbreitet hat.

Mit der Reformation hatte anders als früher nicht nur der Chor und die Priester, sondern auf einmal die ganze Gemeinde etwas zu sagen oder genauer: zu singen.

Und die gute Botschaft setzte sich als ein Ohrwurm in den Menschen fest, schlummerte, summte und brummte in ihnen auch zu Hause, bei der Arbeit weiter.

Zugleich erfuhren die Menschen sich im Singen mit den anderen Glaubenden verbunden.
Individualität und Sozialität, tiefe Innerlichkeit und Gemeinschaft gingen und gehen hier zusammen.

Das ist die Urerfahrung evangelischer Kirche: Wir singen gemeinsam von der Gnade Gottes.
„Ein neues Lied wir heben an“. (Martin Luther)

2. „Kirche des Klanges“ und die Schöpfung.
Beim Wort Gottes geht es um ein ganzheitliches Ereignis, nicht nur um einen kognitiven Inhalt. Nicht nur um das, was sich im Kopf abspielt oder mit dem Verstand erfassen lässt.

Es geht um Töne und Resonanzen, um ein Singen, Klingen, Schwingen.

In der „Kirche des Klanges“ spielen unsere Körper eine zentrale Rolle, Arme, Beine, Bauch, Brust, Haut, Haare. Gottes Wort und Geist sprechen unseren ganzen Leib an – mit allen Sinnen.
Und wie beim Singen verschiedene Tönen einen unterschiedlichen Sitz im Körper haben, so ist es auch mit Gottes Wort: Es klingt in verschiedenen Körper-Regionen.

Die Barmherzigkeit (hebr. rächäm) in der Gebärmutter und in den Eingeweiden (splancha), die Seele (naefaesch) in Kehle, Rachen, Hals, die Reue (teschuwa) als Wendung des Körpers, das Verstehen im Herzen (leb).
Gottes Wort bringt dabei nicht nur uns Menschen zum Klingen, sondern alle Geschöpfe.
„Schläft ein Lied in allen Dingen, Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen, Triffst du nur das Zauberwort.“ (Eichendorff, Wünschelrute)

Das ist wichtig – gerade in einer Zeit, in der wir die Zerstörung der Schöpfung stärker spüren denn je. Es geht um eine neue Harmonie, in der wir mit unseren Mitgeschöpfen leben.

Das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass wir als Kinder Gottes offenbar werden und einen anderen, unerhörten Ton anstimmen. Das Lied der Erlösten.

3. „Kirche des Klanges“ und die Erlösung bzw. Versöhnung

Der Akt des Singens und Musizierens kann dabei selbst als ein Moment von Erlösung bzw. Versöhnung erfahren werden. Es löst sich etwas in mir. Es singt in mir. Klingt durch mich hindurch. Und ich trete in eine Beziehung zu Gott, mir selbst, den anderen: versöhnte Verschiedenheit, harmonische Vielstimmigkeit.

Das biblische Paradebeispiel der erlösenden, versöhnenden, heilenden Kraft der Musik ist Davids Saitenspiel für König Saul. Böse Geister vertreiben und bedrückte Menschen frei machen: Das kann die therapeutische Wirkung der Musik, gerade der Kirchenmusik sein.

Sie erreicht auch Menschen, die von Sprache noch nicht oder nicht mehr erreicht werden.
Kinder, Alte, Menschen mit Handicaps – Menschen also, die für die Gemeinschaft der Glaubenden eine wichtige Rolle spielen.

Musik drückt aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist.“ (Victor Hugo)

4. „Kirche des Klanges“ und die Ökumene

In der Kirchenmusik findet ein ökumenischer Austausch statt wie an wenigen anderen Stellen. Melodien, Rhythmen, Liedtexte werden selbstverständlich über konfessionelle, kulturelle und sprachliche Grenzen hinweg geteilt. Wenn wir in theologischen Diskursen feststecken: gemeinsam musizieren und miteinander singen können wir. Auch, weil sich in Liedtexten oft eine existentiell verdichtete, poetische Sprache findet, die über Lehrformulierungen hinausführt. Das gilt selbst für das Zeitalter der Orthodoxie und des Konfessionalismus im 16. und 17. Jahrhundert, aus dem wir einen Schatz an geistlichen Liedern haben. Kulturelle Crossover helfen, einander in Wertschätzung und Liebe zu begegnen.

Interessant ist das auch im Blick auf interreligiöse Begegnungen. Die Fragen eines multireligiösen Betens nebeneinander oder interreligiösen Betens miteinander sind oft diffizil. Im Musizieren und Singen sind die Hürden oft niedriger, weil es sich unmittelbarer überträgt. „Wer singt, betet doppelt“ (so Martin Luther) – und er oder sie überwindet auch viel leichter das, was von anderen trennt.

5. „Kirche des Klanges“ und die evangelische Zukunft

Wir leben in einer Zeit multipler Krisen – mit einem Zeitgefühl des „5 nach 12“. Gerade junge Menschen erfahren oft die Last, nicht die letzte Generation auf einem belebbaren Planeten sein zu wollen. Hier braucht es entschiedenes Handeln: politisch – gesellschaftlich – individuell. Es braucht aber eben auch Hoffnung, um nicht zu verzweifeln oder aufzugeben. Eine Haltung von Trotz und Trost, von tieferer innerer Widerständigkeit. In der Kirchenmusik, in Chören wird dies vielen Menschen vermittelt – ein Raum, in der meine Ängste und Zweifel, meine Hoffnung, mein Glaube Ausdruck finden und sich verwandeln können. Wir brauchen in Zukunft noch viel mehr davon: „Schöpfungs-Gospels“, in denen junge wie alte Menschen Hoffnung und Widerstandskraft gewinnen, Klage-Lieder und Requiems für jede ausgestorbene Art, Protest-Lieder gegen eine Weltuntergangsstimmung, Hymnen eines neuen Lebens.

Ein neues Lied wir heben an.“


Theologische Impulse (122) von Präses Dr. Thorsten Latzel

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  • 3.9.2022