Orthodoxes Osterfest: „Der Krieg verwischt konfessionelle Grenzen“

„Christos Voskres!“ Als Dekan Volodymyr Chayka die Worte laut in die Evangelische Friedhofskirche ruft, schallt ihm die Antwort noch lauter entgegen. „Voistini Voskres!“  Der Herr ist auferstanden. Er ist wahrhaftig auferstanden. In der großen evangelischen Kirche in Elberfeld herrscht Feststimmung – trotz allem. Am Sonntagnachmittag feiern ukrainisch-orthodoxe, evangelische und katholische Christinnen und Christen in Wuppertal gemeinsam Ostern nach orthodoxem Kalender. In diesem Jahr fällt das Fest auf den 24. April.

Mittendrin sitzt Natalia, die mit ihren beiden Kindern, ihrer Schwiegertochter und ihrer Nichte aus Odessa geflohen ist. „Mein Mann und einer unserer Söhne sind zurückgeblieben“, sagt sie leise auf Ukrainisch. Eine Frau aus der gleichen Bankreihe übersetzt. Und dann nimmt Natalia die Hand ihrer Tochter, reckt den Kopf und ruft laut: „Voistini Voskres!“ Er ist wahrhaftig auferstanden. Es tue so gut, an diesem Nachmittag in der Kirche ein Stück Heimat zurückzubekommen, wenigstens für den Moment, wird sie später sagen. Und dass sie nie erwartet hätte, in der Fremde diese Möglichkeit zu bekommen.

„Wir wollen zeigen, dass wir als Christen zusammenstehen“

Genau darum ging es den Wuppertaler Gemeinden. Nach dem Ostermarsch am 2. April hatten deren Vertreterinnen und Vertreter zusammengestanden und Pläne geschmiedet. Michael Voss, Präses der evangelischen Allianz Wuppertal, hatte schließlich die Fäden in die Hand genommen. „Wir wollen zeigen, dass wir als Christen unterschiedlicher Konfessionen zusammenstehen“, hatte er erklärt, „und wir wollen gemeinsam für Frieden beten.“

Volodymyr Chayka, Dekan des Europäischen Dekanats der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche.

Pfarrer Jonathan Hong und Pfarrer Joachim Hall aus der Evangelischen Kirchengemeinde Elberfeld-Nord hatten ihre große Friedhofskirche angeboten. Die freikirchliche Gemeinde „Kirche im Tal“, mit ihrer ukrainisch-stämmigen Pastorin Anna Volkova hatte genauso ihre Unterstützung zugesagt wie die katholische Kirchengemeinde Herz Jesu. Schließlich hatte auch Volodymyr Chayka, Dekan des Europäischen Dekanats der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche, zugesagt. Sie alle steuern am Sonntagnachmittag ihre Traditionen bei, vertraute Verse und Lieder. Der größte Teil der Gottesdienstbesucherinnen und -besucher hat ukrainische Wurzeln, viele der Menschen sind in den vergangenen Wochen vor dem Krieg geflohen. Aber auch Menschen aus den heimischen Gemeinden sind gekommen. Wuppertals Oberbürgermeister Uwe Schneidewind feiert mit.

„Es ist wichtig für unsere Seelen“

Lange habe seine Kirche in Deutschland nur schwerlich eine Heimat gefunden, erinnert Volodymyr Chayka. „Der Krieg verwischt nun konfessionelle Grenzen“, sagt er. „Das hat mit Liebe zu tun. Und es ist wichtig für unsere Seelen.“ Der Dekan wechselt zwischen den Sprachen. Er redet zu seinen Landsleuten und dann erklärt er der deutschen Gemeinde, was ihm wichtig ist. Er erzählt von Lazarus und dem Sieg Gottes über Leid und Tod. Er erzählt von ukrainischen Städten unter Beschuss und von seiner Hoffnung auf Gerechtigkeit, Frieden und Auferstehung. Er denkt an die Geflüchteten, die Zurückgebliebenen und die Toten. Dann ruft er wieder: „Christos Voskres!“

Segen für Menschen und Speisen – wie in der Heimat

Von der Empore schweben Melodien ukrainischer Komponisten, die Thorsten Pech, Kantor der Friedrichskirche, auf den Weg schickt. Und in den Reihen zupfen einige Frauen vorsichtig an ihren Tüchern, die sie über der Stirn tragen. Viele der Frauen und Mädchen haben sich für eine weiße Bluse entschieden, häufig benäht mit bunten Blumen. Und neben sich auf den Bänken haben sie Körbe voller Brot und Eier stehen, mit Schokolade, Kerzen und kleinen Geschenken. Volodymyr Chayka hat den Segen für Menschen und Speisen versprochen – so wie die Familien es aus ihrer Heimat kennen.

„Mitten in der Trauer wirkt Gott ein Wunder“

Zuvor haben noch die Gastgeber das Wort. „Die Osterfreude beginnt am Grab“, sagt Pfarrer Hong. Während die Menschen das Unaussprechliche noch nicht fassen könnten und sich mit den praktischen Sorgen um Stein und Salbung beschäftigten, sei Jesus schon auferstanden. „Wo Unrecht und Leid zugeschlagen haben, da ist Ostern“, sagt er. „Mitten in der Trauer wirkt Gott ein Wunder.“ Und dann macht er den Menschen Mut, an dieses Wunder zu glauben. Auch in diesen Zeiten. Mitten in Unrecht und Leid. Und auch Pastorin Anna Volkova ruft den Menschen in der vollen Kirche zu: „Jesus weint mit dir. Aber er kämpft auch für dich. Er verteidigt dich.“

Der vierjährige Nils hat Paska, kleine Osterbrote, mit Geflüchteten gebacken. Im Gottesdienst werden sie gesegnet.

„Es ist uns eine Ehre, den Menschen diesen Raum zu ermöglichen“

Während der Chor von der Empore das „Kyrie“ anstimmt, wird es in den Kirchenbänken unruhig. Große Einkaufstaschen werden vorbereitet, die Kinder nehmen ihre Osterkörbe zur Hand. Sie wissen, was als nächstes kommt. Volodymyr Chayka lädt die Menschen ein, mit ihren Körben, Taschen und Sorgen nach vorne zu kommen. Es ist ein berührender Moment, weil er so authentisch und vertraut wirkt. In einem großen Kreis stellen sich die Frauen und Kinder vor dem Altar auf, zwei Damen in ukrainischer Tracht beginnen liturgische Gesänge anzustimmen und die Lebensmittel finden einen Platz auf den Stufen vor dem Altar. Der vierjährige Nils, der eine ukrainische Mutter und einen deutschen Vater hat, trägt einen Korb voller Paska. Am Tag zuvor hat er mit den Geflüchteten, die bei ihm zuhause Schutz gefunden haben, die kleinen Osterbrote gebacken und verziert. Jetzt sollen sie den Segen bekommen. „Es ist uns eine große Ehre, den Menschen heute diesen Raum ermöglichen zu können“, flüstert Pfarrer Hong am Rande der Segnung. Als das Weihwasser schließlich die Lebensmittel und Häupter der Menschen trifft, antworten sie mit Worten in ihrer Muttersprache.

„Das ist Ostern. Es ist der Sieg der Liebe“

Auch Natalia hat mit ihren Kindern in dem Halbkreis einen Platz gefunden. Ob ihr denn überhaupt zum Feiern zumute sei, wird sie später gefragt. „Das ist Ostern“, sagt sie ohne Zögern. „Es ist der Sieg der Liebe und der Grund unserer Hoffnung.“ Und bevor sie dann noch ein paar Fotos macht, um sie am Abend in die Ukraine zu schicken und dann mit ihren Kindern und ihren Gastgebern den Weg zum Abendessen antritt, dreht sich Natalia noch mal um. „Und dieses Jahr habe ich an Ostern innerlich noch etwas lauter zu dem Auferstandenen gebetet“, sagt sie dann, „dass wir bald nach Hause können und dieser Krieg endlich vorbei ist.“

  • 25.4.2022
  • Theresa Demski
  • Theresa Demski