Armut nicht hinnehmen

Politisches Nachtgebet in der Lutherkirche liefert Gesprächsstoff zum Umgang mit einer großen sozialen Herausforderung.

 

Hinsehen, einbinden, unterstützen: Wie gehen wir als Gesellschaft mit Menschen um, die von Armut betroffen sind? Was tut Oberhausen, um Teilhabe zu ermöglichen? Wie lässt sich das Engagement von kirchlichen und kommunalen Trägern besser vernetzen? Diese Fragen standen im Fokus des 24. Politischen Nachtgebets. Veranstaltet hat die Diskussion der Ausschuss Wirtschaft-Arbeit-Soziales (WAS) des Evangelischen Kirchenkreises Oberhausen in Kooperation mit dem Evangelischen Familien- und Erwachsenenbildungswerk (FEBW).

Als Podiumsgäste waren fünf Fachleute für Soziales aus der Region geladen. Die Moderation führte Pfarrer Andreas Loos, Vorsitzender des WAS-Ausschusses. Geistliche Denkanstöße sowie ein vielfältiges Musikprogramm von „The Bows“ regten das Publikum zur Beteiligung an.

Anlaufstellen in der Nachbarschaft

Sozialexperte Ercan Telli stellte in einem Impulsvortrag unterschiedliche Dimensionen von Armut in Oberhausen dar. Bei der räumlichen Verteilung zeigte sich ein deutliches Gefälle zwischen nördlichen und südlichen Stadtteilen. „Wir beobachten, dass die Dichte armutsbetroffener Menschen in den Südvierteln weiter zunimmt“, so Telli. „Das bedeutet: Wer dort arm ist, bleibt es auch – und wird tendenziell sogar immer ärmer.“ Silvia Willershausen von der Oberhausener Tafel bestätigte diesen Trend: „Die Zahl der Kunden an unserer Ausgabestelle in der Gustavstraße hat sich auf rund 4.400 Personen pro Woche verdoppelt, viele davon sind Kinder.“

Wie lokale Lösungen aussehen können, berichtete Luna Mreisch, Leiterin des Stadtteilprojektes „Kon-Takt“ in Essen-Katernberg. Dort bietet das Bürgerzentrum Begleitung und Unterstützung für Ratsuchende aus der Nachbarschaft an. Das Angebot reicht von der Beratung bei Antragsstellungen oder Behördengängen bis hin zu gemeinsamen Kursen. Einen ähnlichen Ansatz verfolgen die sechs Quartiersbüros in Oberhausen. Akzeptanz entstehe aus der persönlichen Begegnung, betonte Mreisch. „Das Kon-Takt ist so erfolgreich, weil sich die Menschen vor Ort wertgeschätzt fühlen.“

Früh die Weichen stellen

Frank Domeyer, Geschäftsführer des Diakoniewerks Oberhausen, verwies auf die Bedeutung des Bildungssystems in der Debatte um Armut. „Die Diakonie übernimmt aktuell die Rolle der sozialen Feuerwehr, weil zu wenig Geld in Prävention und Hilfe zur Selbsthilfe fließen.“ Sein Team erlebe das beispielsweise in der Schuldnerberatung. Armut vererbe sich über Generationen, finanzielle Bildung müsse deshalb in den Schulen beginnen, „damit junge Menschen rechtzeitig wichtige Kompetenzen erwerben und später gar nicht erst in eine Schieflage geraten.“

Jürgen Koch, Geschäftsführer der Agentur für Arbeit Oberhausen und Mülheim an der Ruhr, pflichtete mit Blick auf eine mögliche Anpassung der Lehrpläne bei: „Wir brauchen eine engere Verzahnung von Betrieben und Schulen, wie sie in der dualen Ausbildung üblich ist.“ Jeder werde auf dem Arbeitsmarkt gebraucht, aber dafür müssten insbesondere Jugendliche besser auf das Berufsleben vorbereitet werden.

Weniger Stigma, mehr Augenhöhe

Eine Wortmeldung aus dem Publikum merkte kritisch an, dass die Beschreibung solcher institutioneller Defizite Armutsbetroffene nicht ausreichend selbst zu Wort kommen lasse. Daran schloss sich die Frage an, wie armutssensible Sprache dazu beitragen kann, den Austausch inklusiver zu gestalten. Weniger Scheuklappen und mehr Zusammenarbeit auf Augenhöhe sind auch aus Sicht von Sozialexperte Telli das Erfolgsrezept, obwohl Strukturen für ihn unentbehrlich bleiben. Die Zukunft gehöre ganzheitlicher Gemeinwesenarbeit in der Trägerschaft von Kirchen und Wohlfahrtsverbänden in Kooperation mit den Kommunen. „Wir müssen als Gesellschaft lernen, Chancen und Wohlstand gerechter zu verteilen, wenn wir zukunftsfähig bleiben wollen.“

Weitere Informationen rund um das Politische Nachtgebet und die Arbeit des WAS-Ausschusses sind auf der Website des Ev. Kirchenkreises Oberhausen verfügbar: www.kirche-oberhausen.de/was


Stichwort: Armut in Deutschland

Laut Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes waren 16,9 Prozent der deutschen Bevölkerung im Jahr 2021 von Armut betroffen, das entspricht 14,1 Millionen Menschen. Als armutsgefährdet gilt, wer über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügt. Diese Schwelle liegt für eine allein lebende Person aktuell bei rund 15.000 Euro im Jahr, für eine Familie mit zwei Kindern bei etwa 31.500 Euro (Nettoeinkommen eines Haushaltes inklusive aller Transferleistungen und Zuwendungen).

Stichwort: Politisches Nachtgebet

Der Ausschuss Wirtschaft-Arbeit-Soziales des Evangelischen Kirchenkreises Oberhausen organisiert in der Regel zwei Mal jährlich ein Politisches Nachtgebet. Inhalt der Diskussion sind aktuelle gesellschaftliche Themen – von der Arbeitswelt über Integration und Nachhaltigkeit bis hin zur Außenpolitik. Damit bietet Kirche allen Interessierten vor Ort eine Plattform für den öffentlichen Austausch mit Vertretenden von Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen, Politik und Kommunalverwaltung.

  • 7.11.2023
  • Sven Boger
  • Red